Hamburger Kammerspiele - Rezensionen

Wie real ist die virtuelle Welt?

Eine Rezension von Josephine Andreoli.

Autor: Josephine Andreoli

Nach dem preisgekrönten Psychothriller „Die Netzwelt“ von der US-amerikanischen Autorin Jennifer Haley eröffnen die Hamburger Kammerspiele ein gesellschaftlich relevantes und aufwühlendes Theaterstück, das einen Blick in die nicht allzu ferne Zukunft wirft.

Eine technisch optimierte Version des heutigen Internets lockt Kunden unter fremder Identität in die virtuelle Welt. Eine Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten, wie ein Magic Toy Shop. Dort können die Konsumenten ihren geheimsten Wünschen nachgehen und ihren Fantasien freien Lauf lassen. Pädophilen Fantasien. In der des erfolgreichen Unternehmers, Mister Sims´, ins Leben gerufenen Domain haben Pädophile die Möglichkeit, ihre Perversionen auszuleben und sich ungehindert an kleinen Kindern zu vergehen.

Doch als die junge Ermittlerin Morris die Schattenwelt genauer inspiziert und den verdeckten Ermittler Woodnut in diese entlässt, eröffnen sich ihr neue Abgründe der perfekt simulierten Welt. Das Ausleben der dunklen Fantasien geschieht im Einverständnis aller Beteiligten und bleibt ohne Konsequenzen in der Realität, beschreibt also prinzipiell kein Verbrechen. Oder vielleicht doch?

Eben diese Fragen stellte sich auch Jennifer Haley und eröffnet einen für die wirkliche Welt schlecht abschneidenden Blick in die Zukunft. Wie real ist die virtuelle Welt? Wessen Gesetze gelten im Internet? Und was geht vor: die Privatsphäre des Users oder die Notwendigkeit der Überwachung?

Christian Kohlund als "Papa" mit seiner "Iris" (Annika Schrumpf). Foto: Renate Wichers

Regisseur Ralph Bridle begibt sich auf eine Gradwanderung und inszeniert ein gehaltvolles und aufgerührtes Stück, das niemanden unberührt lässt. Das trostlose Bühnenbild der realen Welt wirkt ebenso trist wie seine Charaktere, die farblos vor sich her existieren, jedoch jegliche Verbindung zum wirklichen Leben verloren haben. Erst in der „Netzwelt“, bunt und leicht, scheinen sie zu Leben zu erwachen und verlieren sich in einer virtuellen Welt, echter als die Wirklichkeit.

Dabei gelingt es den brillierenden Schauspielern, die Problematik der Pädophilie aus einer anderen Perspektive zu betrachten und erschreckenderweise gar verstehen zu lernen. Die urmenschliche Grundfrage „Wer will ich sein?“ wird dabei keinen Moment aus den Augen gelassen.

Insbesondere die Jungdarstellerin Annika Schrumpf, die die neunjährige Iris verkörpert, präsentiert eine kindliche Unschuld, die das fesselnde Stück trägt.

„The Nether“ thematisiert die Auseinandersetzung von Technologie und menschlichem Begehren in einem von Computern simulierten Zeitalter und stellt dabei jegliche moralischen Tatsächlichkeiten auf den Prüfstand.

Ein diabolischer Blick in die Zukunft, die immer näher kommt.