Frauen als Risiko

Die erste Kapitänin Deutschlands

Die Kapitänskajüte ist noch heute eine Männerdomäne – in den 50er Jahren war der Beruf für Frauen sogar verboten.

Autor: Anja-Katharina Riesterer

1.438 Kapitäne fahren in Deutschland zur See, zehn von ihnen sind weiblich. Eine kleine Zahl – und doch ein großer Erfolg. Denn in den 50ern war das undenkbar.

Über den langsamen Wandel eines Berufsbildes, der in Hamburg mit einer mutigen Blankeneserin begann.

Es ist ihr größter Triumph: 1955 hält Annaliese Teetz das Patent „Kapitän auf großer Fahrt“ in den Händen. Die Blankeneserin darf als erste Frau des Landes offiziell die Weltmeere durchfahren und eine Mannschaft führen. Der Weg dahin war steinig.

Als Junge verkleidet zur See

Als Teenager der 1920er kämpft Annaliese Sparbier gegen die Rollenvorstellungen. Sie ist wasserverrückt, lernt mit zwei Jahren schwimmen, spaziert täglich an der Elbe entlang und verspürt einen Drang zur Seefahrt, der immer stärker wird. Aber Frauenarbeit an Deck ist verpönt: mangelnde Körperkraft und Autorität, die Gefahr, zum Sexualobjekt zu werden. Das sind die Argumente, mit denen die Reeder ihre Bewerbungen ablehnen.

„Den Schock kann ich der Mannschaft nicht zumuten“ sagt einer der Reeder. Also schnürt sie sich die Brust ab, zieht Männerklamotten an und schafft es mit 14 Jahren auf einen Fischdampfer.

Doch ihr Vater will, dass sie Lehrerin wird. Annaliese studiert Geografie und Leibesübungen, unterrichtet ab 1932 in Blankenese. Hier geht ihr Kampf weiter, sie lässt die Mädels boxen, eigentlich ein „Männersport“. Der Schulrat sieht das nicht gern und entzieht ihr die Mädchenklasse. Das Bild vom „Heimchen am Herd“ behindert nach wie vor ihren Weg zur See. Im Nationalsozialismus sollten die Frauen Kinder gebären, sich dem Mann unterordnen und den Haushalt führen. Sie wurden aus ihren Berufen gedrängt und bekamen das passive Wahlrecht abgesprochen.

Die Kahlkampschule in Blankenese. Hier brachte sie Jungs und Mädels das Boxen bei.

Nicht so Annaliese, die für die Arbeit an Bord eine Sondergenehmigung von Adolf Hitler persönlich bekommt. Wie sie das geschafft hat, weiß heute niemand mehr. Fest steht: sie war stur und willensstark. 
Im Dezember 1943 erhält sie vom Direktor der Hamburger Seefahrtschule das Steuermannspatent. Damit ist sie noch keine Kapitänin. Auch nach dem Krieg muss sie in der Bundesrepublik weiter kämpfen. Erst 1955 hat sie es geschafft und hält das Große Patent in den Händen. Sie ist erste Kapitänin Deutschlands – noch vor dem Gleichstellungsgesetz von 1958.

Frauen an Bord bringen Unglück

Klaus Schade (73) erinnert sich gern an seine ehemalige Lehrerin von der Kahlkampschule. „Sie war streng, aber mit ihr hatten wir auch den meisten Spaß. Wir gingen zelten und schwimmen – und sie hat mit uns ein Elbmodell gebaut, mit echten blinkenden Leuchttürmen.“ Ihre Erfolge sorgen für Bewunderung. „Sie war sehr angesehen“, sagt Klaus Schade, dessen Seefahrerfamilie für Annaliese ein wichtiger Anlaufpunkt war. „Aber es gab natürlich auch kritische Stimmen, die ihr Verhalten unpassend oder gar schamlos fanden.“

Das Seemannsgesetz – das Wort Seemann spricht für sich – wird nicht geändert. Immer noch gilt eine Frau an Bord als Risiko, ein Matrosenspruch besagt sogar: „Unnerröck an Bord, dat gifft Malheur” (Unterröcke an Bord, das bringt Unglück).

In der Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) kämpft Annaliese, die inzwischen geheiratet hat und den Nachnamen Teetz trägt, gegen die Diskriminierung von Frauen in der Seefahrt. Die Gründe für die Ausgrenzung werden immer fadenscheiniger: es gebe keine getrennten Toiletten an Bord.

Das Kommando darf Annaliese nie übernehmen. Sie fährt noch einige Jahre als Offizierin über die Meere, geht 1968 von Bord, weil ihr Ehemann schwer krank ist. Nach seinem Tod erleidet sie selbst drei Schlaganfälle, ist körperlich schwach.

Im Eigenheim bei Wittenbergen hat sie vom Arbeitszimmer aus Blick auf die Elbe. Der große, dunkle Schreibtisch steht direkt am Fenster, sie blickt über Garten und Elbwiesen aufs Wasser. Eine Kapitänskajüte.

Das Arbeitszimmer als Kapitänskajüte – hier konnte sie ihren Traum weiterleben.

Diszipliniert kämpft sie sich ins Leben zurück, steht morgens um halb sechs auf und macht Züge am Reck im Garten. Mit 81 Jahren schafft sie noch jeden Tag drei Stück. Im Sommer schwimmt sie täglich durch die Elbe, im Winter reibt sie sich mit kaltem Schnee ab, um sich fit zu halten. Irgendwann zeigt nur noch die leicht beschwerliche Sprache, dass sie schwer krank gewesen ist.

An dieser Reckstange turnte die toughe Frau noch mit 80!

Mit dem Schlauchboot paddelte sie oft nach „Schweinesand“, einer Elbinsel gegenüber von Blankenese, zum Klönschnack mit dem Inselwart. Mit Freundin Anna transportiert sie das Boot hinunter zur Elbe, sobald sie losfährt, ruft Anna den Inselwart an. Sicherheitshalber. Wenn Annaliese zurückrudert, benachrichtigt sie Anna, die dann am Ufer wartet.

„Wie sie gelebt hatte, so starb sie auch“

Es ist der 5. April 1992. Annaliese ist 82 Jahre alt und rudert von Schweinesand zurück. Starker Wellengang. Vor dem Blankeneser Ufer gerät sie in eine Strömung und kentert. Anna ruft vom Ufer „Halt durch, ich hole Hilfe“. Annaliese könnte an Land schwimmen, aber ein Kapitän verlässt sein Schiff nicht. Sie will es retten.

Elblotse Klaus Schade erinnert sich gern an seine Lieblingslehrerin.

Klaus Schade vermutet, dass sie sich zum Anleger treiben lassen wollte. „Schließlich kannte sie die Wasserbewegungen in- und auswendig.“ Aber sie unterschätzt die Kälte, ihr Körper wird so steif, dass sie den Rettungsring nicht greifen kann. Bei einem Wendemanöver bekommt ihr Boot einen Stoß – und geht mit ihr unter. Erst viele Monate später findet man ihre Leiche weiter elbabwärts.
„Wie sie gelebt hatte, so starb sie auch“ sagt Klaus Schade. „Verbunden mit dem Wasser.“

Das Wort „Kapitän“ ist noch immer männlich besetzt
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Zwei Jahre nach ihrem Tod wird das Seemannsgesetz geändert. Heute können Frauen das Kommando an Bord übernehmen, das Berufsbild “Kapitän” wandelt sich aber nur langsam. „Die Unternehmer scheuen sich immer noch, weibliche Kapitäne einzustellen“ sagt Willy Wittig, Professor für Nautik in Bremen.“ Aber auch die Frauen seien gehemmt: „Ein halbes Jahr in einer Männerwelt zu leben erfordert Mut – und man muss sich klar abgrenzen können.“ 


Dennoch dürfte der Kapitäninnen-Anteil künftig steigen: wegen Nachwuchsmangels soll „diese gigantische Ressource von Frauen in der Seefahrt“ erschlossen und gefördert werden“, sagt Wittig. Unter den eingeschriebenen Nautik-Studierenden seiner Universität liegt die Frauenquote immerhin bei 20 Prozent und die Frauen schließen mit besseren Noten ab als ihre männlichen Kommilitonen.

Dennoch sind nur zehn von 1.438 deutschen Kapitänen weiblich. Gerade einmal 0,7 Prozent.

Annaliese Teetz kennen sie alle.