Hamburger Kammerspiele - Rezensionen

Die Gesetzlosen

Eine Rezension von Sophia Herzog.

Autor: Sophia Herzog

Stellen Sie sich ein Leben vor, in der Sie sich nur über ein Portal einloggen müssen, um in einer anderen Welt zu sein. Studieren in einer anderen Welt, das Geld verdienen in einer anderen Welt, leben in einer anderen Welt. Sie können Orte erschaffen, wie Sie möchten, sie können aussehen, wie sie möchten, ein anderer Mensch sein. Die Grenze? Unsere Vorstellungskraft.

Was klingt, wie der Plot eines Sci-Fi-Films, der in einer fernen Zukunft spielt, ist für Jennifer Haley nicht mehr weit entfernt. In ihrem Stück „Die Netzwelt“, das am Sonntag in den Hamburger Kammerspielen Premiere feierte,  spielt sich der Großteil des Lebens nicht mehr in der Realität ab, sondern in einer virtuellen Welt, betretbar durch einen einfachen Klick auf den Login-Button. Die junge Kommissarin Morris (Neda Rahmanian) ermittelt gegen den in der Netzwelt unter „Papa“ bekannten Mr. Sims (Christian Kohlund). Ihm gehört das „Refugium“, einem Ort wie aus dem Märchenbuch, an dem seine Kunden ihre dunkelsten Fantasien ausleben können. Mit der Vorliebe für kleine Mädchen und barbarischer Gewalt macht Papa in der Netzwelt sein Geld.

"Woodnut (Björn Ahrens) befragt Iris (Annika Schrumpf") in der "Netzwelt". Foto: Renate Wichers

Als der verdeckte Ermittler Mr. Woodnut ins Refugium kommt, um mehr über Papa und sein ominöses Geschäft heraus zu finden, lernt er das junge Mädchen Iris (Annika Schrumpf) kennen, und verliert sich in dem düsteren Ort.

Am Anfang des Stückes ist der Fall klar. Gut kämpft gegen Böse. Man steht schnell auf einer Seite. Doch das perfekt gewebte Verbrechen zerbröselt auf der Bühne schneller als erwartet. Denn ist das Geschehen in einer Welt, die nicht real ist, überhaupt eine Tat? Ist es nicht eigentlich rechtens, wenn im Refugium nie wirklich jemand zu Schaden kommt und nichts hier Konsequenzen hat? Kann man etwas bestrafen, dass nur in der Fantasie der Menschen passiert? Die Diskussion ist verängstigend relevant. In dem Internet der heutigen Zeit, einem fast rechtsfreien Raum, sind die Grenzen genauso unbekannt. Eigentlich sind wir gar nicht mehr so weit davon entfernt von einer Version der „Netzwelt”, oder zumindest auf dem guten Weg. Die Möglichkeit, sich eine neue Identität zu zulegen, jemand zu sein, der man nicht ist, aber sein möchte, das ist heute schon möglich.

Ist „Die Netzwelt“ also Gesellschaftskritik? Ja. Aber nicht nur. Das Stück erzählt auch die traurige Geschichte von Menschen, die sich so entfremdet in einer Welt fühlen, dass sie sich in eine andere flüchten müssen. Es hat alle Elemente eines klassischen Dramas. Liebe, Eifersucht, Blut. Manchmal ist das Stück zu perfekt gesponnen, die Verstrickung der Handlung ein wenig zu konstruiert, die Charaktere zu schablonenartig und mit weniger Tiefgang als erwartet. Aber das macht nichts. „Die Netzwelt“ muss nicht gefallen, um zur Diskussion anzustacheln. Es wird im Stück so gut argumentiert, dass man manchmal erschrickt, und bemerkt, dass man mit den angeprangerten Personen sympathisiert anstatt sie anzuprangern. Doch am Ende geht es nicht nur um das Verbrechen, oder das Internet, oder Pädophilie. Es geht um Beziehungen. Darum, wie Menschen miteinander umgehen, in dem Gewissen, dass sie alle Blut an den Händen haben. Die junge Iris hat das in dem Stück vielleicht am Besten von allen verstanden. Als sie über Gott nachdenkt, ist das für sie keine Person, sondern “die Art unseres Umgangs miteinander.”