Hamburger Kammerspiele - Rezensionen

„Die Netzwelt“ – Eine brutale, surreale Welt, aus der ein Entkommen kaum möglich ist

Eine Rezension von Natalia Möbius.

Dieses Theaterstück zieht, nein reißt, den Zuschauer in seinen Bann und lässt ihn nicht mehr aus den Klauen. Er schaut hin und kann nicht mehr wegsehen, obwohl er kaum erträgt, was auf der Bühne geschieht.

In diesem Stück, geschrieben von Jennifer Haley und inszeniert von Ralph Bridle, geht es um pädophile Neigungen im Internet, hier genannt die Netzwelt, um Illusionen, die eigentlich doch keine sind, und um die Macht des Internets. Wo ist der Unterschied zwischen Realität und Virtualität? Und was, wenn man einfach in die virtuelle Welt übertreten könnte?

Es geht um das „Refugium“, eine Plattform, auf der man mit kleinen Mädchen Sex haben kann, sie sogar töten, wenn man möchte. Hinter diesen kleinen Mädchen verbergen sich zwar erwachsene Menschen, dennoch bleibt die Frage: schafft diese Fantasiewelt nicht vielleicht reale Pädophile?

„Die Netzwelt“ spielt in der nahen Zukunft. Das Internet ist ein Ort ohne Regeln und Konsequenzen geworden.

Durch das gesamte Stück ziehen sich zwei Verhöre, durchgeführt von der jungen Ermittlerin Morris. Sie will herausfinden, wer hinter dem Refugium steht und wo dessen Server sich befindet.

Das Stück ist nicht chronologisch aufgebaut, verhört werden ein User der Domäne und deren Erschaffer, der im Refugium als „Papa“ auftritt. Als Schlüsselfigur dient das virtuelle 9-jährige Mädchen Iris.

Liebe, Hass, Abhängigkeit. Das sind die großen Themen des Stückes. Immer wieder gibt es Flashbacks, wo der Zuschauer direkt in die Welt des Refugiums blickt. Die psychologischen Zusammenhänge zwischen den Figuren, sowohl den realen als auch den virtuellen, sind so raffiniert dargestellt, dass der Zuschauer erst spät auf den Weg der Erkenntnis geleitet wird. Es ist faszinierend, wie Figuren aus der realen Welt in die Muster der virtuellen verfallen. „Die Netzwelt“ weist die gesamte Grausamkeit der Thematik auf und schreit es dem Zuschauer fast ins Gesicht:

„Und in diesen Augenblicken, wenn ich inmitten der Reste ihres massakrierten kleinen Körpers stehe, [...] starre ich auf das Blut an meinen Händen und denke, mein Gott, wie hell es doch ist, welche Schönheit...“

„Wenn es keine Konsequenzen hat, dann hat es auch keine Bedeutung.“

Das Stück lässt erschauern und stellt die stumme aber penetrante Frage: „ Wären wir alle so? Was würden wir tun, hätte unser Handeln keine Konsequenzen?“ Eine Frage, so aufdringlich und unangenehm, dass die Zuschauer unruhig in ihren Sitzen  herumrutschen.

Die Figuren winden sich und belügen sich selbst, nur um an Ende die Wahrheit anerkennen zu müssen.

Iris (Annika Schrumpf) ist "Papa" (Christian Kohlund) sein liebstes Spielzeug. Foto: Renate Wichers

Die schauspielerische Leistung von Christian Kohlund ist enorm. Er stellt den Erschaffer des Refugiums dar. Seine Figur hat keine großen Gefühlsausbrüche und die braucht sie auch nicht. Mit brutaler Ruhe und einer gewissen Gleichgültigkeit vermittelt Kohlund dem Zuschauer auf viel erschreckendere Weise die innersten Begehren seiner Figur. Er ragt heraus und fesselt, dass es fast wehtut.

Iris wird nicht, wie erwartet, von einem Kind gespielt, sondern von Annika Schrumpf, einer jungen, erwachsenen Schauspielerin. An sich ist diese Tatsache kein Problem für die Fantasie des Zuschauers. Sie gibt sich große Mühe, der Rolle eines Kindes gerecht zu werden. Was stört, ist der Text. Kein Kind von neun Jahren redet so kontrolliert und intellektuell wie Iris. Dadurch wird die Fantasie des Zuschauers gestört und das Gesamtbild wirkt unstimmig.

Trotz dieses kleinen Makels, gehört „Die Netzwelt“ zu den Theaterstücken, die man gesehen haben muss. Alle Figuren greifen sehr gut ineinander und der Schluss ist phänomenal. Jegliche Emotionen, die der Zuschauer während des Stückes empfunden hat, werden hier vereint und er kann gar nicht mehr anders, als diesen einsamen Mann auf der Bühne zu bemitleiden.