Hamburger Kammerspiele - Rezensionen
Virtuelle Abgründe
Eine Rezension von Julia Adame y Castel.
Autor: Julia Adame y Castel
Darf man sich an Kindern vergehen? Natürlich nicht. Was aber wenn dies lediglich in einer Fantasie-Welt geschieht und hinter jenen vermeintlichen Kindern in Wahrheit Erwachsene stecken?
Ist alles erlaubt, was nur in der Fantasie geschieht? Und welchen Stellenwert haben Fantasie und Realität in einer mehr und mehr digitalisierten Welt noch?
Mit nicht weniger als diesen Frage konfrontiert „Die Netzwelt“ seit Sonntag seine Zuschauer in den Kammerspielen.
Realistischer als es dem einen oder anderen vielleicht lieb ist, schockiert das Theaterstück nach der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Haley und regt damit zum Nachdenken an.
Irgendwo. Bald. Die Menschen tauchen jeden Tag in die sogenannte Netzwelt – das weiterentwickelte Internet – ein. Sie gehen dort ihren Berufen nach, studieren in „Studien-Domains“ oder genießen einfach das Rauschen der Blätter im Wind. Die wirkliche Welt kann mit dieser gelebten Fantasie-Welt schon lange nicht mehr mithalten.
Doch in diesem virtuellen Raum geschehen auch andere Dinge. Abstoßende Dinge. Damit es nicht länger ein „wilder Westen“ bleibt, ermittelt Detective Morris (Neda Rahmanian) für die Ermittlungsbehörde der Netzwelt. In ihrem Visier ist eine Domain, in der Erwachsene gegen Geld Sex mit kleinen Kindern haben. Der Clou dabei: Alles sieht echt aus, riecht echt und fühlt sich sogar realistisch an, doch in Wirklichkeit stecken hinter den kindlichen Avataren Erwachsene.
Um Beweise für ein rechtswidriges Handeln zu sammeln, schleust Detective Morris einen Undercover-Ermittler (Björn Ahrens) in das sogenannte Refugium ein. Doch auch dieser gerät in den Bann der scheinbar so heilen Welt, in der 10-jährige blonde Mädchen so unschuldig rumtollen und in der das Oberhaupt, von allen nur Papa (Christian Kohlund) genannt, patriarchalisch über seine Gäste wacht.
Und so verschwimmen nach und nach die zwei Welten und der Wahnsinn scheint überzuschwappen aus der virtuellen Welt hinein in das Verhörzimmer, in dem Detective Morris abwechselnd den Betreiber der Domain und einen Kunden des Refugiums verhört.
Spätestens als die Plexiglas-Wand, die auf der Bühne das Refugium von der Realität trennt, sich rot vor Blut färbt wird klar, dass es ein „Leben jenseits aller Konsequenzen“, wie Papa es anpreist, nicht geben kann. Oder etwa doch?
Regisseur Ralph Bridle inszeniert das Stück, das noch bis zum 16. Mai in Hamburg aufgeführt wird, mit schlichten aber dennoch wirkungsvollen Mitteln. Im Angesicht der perfide ausgearbeiteten Geschichte würde man als Zuschauer am liebsten wegsehen – Und tut es dann doch nicht.
Den schauspielerischen Leistungen der Charaktere ist es zu verdanken, dass die Zuschauer am Ende in den Grundtiefen ihrer Moral erschüttert, minutenlang klatschend den Saal verlassen.
Und ohne Zweifel nachdenken über die Digitalität, über Grenzen, über das eigene Wesen – aber vor allem, wie all das zusammen passt.
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