Sprechwerk

Im Spagat

Helen Schröder und Ekaterina Statkus, zusammen 60, auf der Suche nach der Frage, was einen Künstler ausmacht.

Autor: Friederike Hoppe

Ein kleines weißes Plakat mit einem schwarzen Flügel. Eine baufällige Autowerkstatt im Halbdunkel. Ohne das Plakat würde niemand das „Sprechwerk“ finden, in der Klaus-Groth-Straße Nähe Berliner Tor. Hier findet heute Abend der letzte Teil des „Festivals der darstellenden Künste Hamburgs“ statt.

Drinnen, am Eingang, eine selbstgebaute Kasse, gegenüber eine Bar. Es riecht nach warmem Essen und Bier. Süßlich-würzig. Der kleine Raum ist ziemlich voll: 40 Gäste. Nasenpiercing, eine Frau mit Dreadlocks, viele mit Hüten, zwei Männer mit Mützen, einer mit Hosenträgern. Schwarz. Wahrscheinlich alles hip.  

Vor der Eingangstür etwa zehn Personen. Eine Frau, schwarze Mütze, dunkle Locken, schwarze Hose,  schwarze Hornbrille, hebt die Hand: „Zur Vorstellung The winning Team, bitte hier herein.“ Einige kratzen die Nudelreste auf ihren Tellern zusammen, leeren ihre Bierflaschen, die Weißweintrinker nehmen ihre Gläser mit rein. Acht Reihen Holzstühle, freie Platzwahl.

Helen Schröder und Ekaterina Statkus, die den Abend bestreiten, betreten die Bühne. Stellen sich hin, machen Gymnastik: Sie ziehen die Unterarme rhythmisch, wie im Hanteltraining, zum Oberkörper. Fünf Minuten lang.

Dann sagt Schröder: „Hallo, mein Name ist Helen.“ Sie trägt einen grauen Ganzkörperanzug, schwarze Schuhe, sie betont das „Hallo“ und das „Helen“. Sie erklärt, dass sie sich mit Frau Statkus  um den „Hamburger Performance-Pokal 2015“ bewirbt, und dazu Empfehlungsschreiben benötigt. Schröder zitiert ein Empfehlungsschreiben für Statkus. Es beginnt mit Statkus Geburt:  „Sie war schön, wie Kaiserschnitt-Babys so sind, keine blauen Flecken, keine Dellen.“

Statkus‘ Empfehlungsschreiben für Schröder: „Sie fand sich von Anfang an in der Klassengruppe gut zurecht.“ Statkus rollt das r, zieht die Vokale lang und liest vom Blatt ab. Das Blatt in ihrer Hand zittert. Einige Gäste lachen.

Nun tragen die beiden Schreiben vor, an Größen des Tanztheaters und der Performancekunst gerichtet, in denen diese um Empfehlungen gebeten werden: „Sehr geehrte Frau Monika Grütters, hiermit sende ich Ihnen ein vorgefertigtes Empfehlungsschreiben zu, unter das sie nur noch ihre Unterschrift setzen müssen. Ansonsten werde ich Ihre Unterschrift einfach rein kopieren.“ Grütters ist Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Lautes Lachen im Publikum, Klatschen. „Bitte schreiben Sie, wie toll ich als Choreografin bin, gern übertreibend“, liest Statkus vor.

Violinen, volles Vibrato, Kontrabass, aus den Lautsprechern neben der Bühne. Neonblaue Lichteffekte. Statkus und Schröder lesen Namen der Kunst- und Kulturszene vor, mit genauer Berufsbezeichnung: „Nik Haffner, Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin.“ Und: „Annette Stiekele, Kulturjournalistin des Hamburger Abendblattes.“ Stiekele wird darum gebeten, die Fähigkeiten der beiden Schauspielerinnen in einem Empfehlungsschreiben zu bezeugen: „Sehr geehrte Frau Stiekele ...“ Um ein solches Schreiben wird auch Haffner gebeten.

Statkus fragt Schröder, inwiefern ein Empfehlungsschreiben aussagekräftiger sein kann, als die Performance, die sie bieten. Eine Antwort bekommen sie von Marina Abramović, internationale Performance-Künstlerin aus Jugoslawien. Statkus bringt einen Stuhl und einen Laptop auf die Bühne. Die beiden und das Publikum schauen auf ein YouTube-Video mit Abramović, die an einem Glas Wasser nippt und sagt: „Alles was du tun musst, ist ein Glas Wasser in deiner Hand zu halten, deine Augen zu schließen. Feel the wetness in the glass itself, feel the calmness and wetness.“

Schröder holt zwei Gläser Wasser hinter der Bühne hervor. Sie gibt Statkus ein Glas. Beide nippen mit geschlossenen Augen an ihren Wassergläsern. Statkus blinzelt, schielt zu Schröder hinüber, die hat die Augen zu. Fühlt die andere „the wetness in the glass“?, „the calmness and wetness“?  

Es ist an diesem Abend selten still im Sprechwerk, meistens wird gelacht. Die Szene endet mit Warteschleifenmusik aus einem Handy. „Marina Abramović sagt, um Sie als Publikum wirklich zu erreichen, müssen wir noch weitere 28 Minuten Wasser trinken“, erklärt Statkus ernst. Wieder Gelächter.

Schröder und Statkus orientieren sich an der Hamburger Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte: „Für eine gute Performance braucht man drei Aspekte“, sagt Fischer-Lichte, „erster Aspekt, die Abgründe der Menschheit, zweiter Aspekt: die Sehnsucht nach Vereinigung, dritter Aspekt: die Unvollkommenheit des menschlichen Körpers.“ Statkus erklärt, dass sie und Schröder diese Aspekte nicht nur in ihrer eigenen Arbeit, sondern auch in den Choreografien von den anderen gefunden haben. Schröder lässt das Publikum zwischen eigenen Choreografien und den anderen wählen. Zur Auswahl stehen: Pina Bauschs Tanzperformance „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“, das Original, oder die Interpretation der Bausch-Choreografie von Schröder und Statkus „auf einem Stück Wuppertaler Original-Tanzteppichboden“. Soviel zu „Abgründe der Menschheit“.

Statkus fragt das Publikum, wer Bausch sehen will, bittet um „Hände hoch“, zählt „neun“ Hände. Und fragt dann nach dem Wuppertaler Tanzteppichboden: Deutlich mehr Hände und ein „oooh“!

Nun zum Thema „Sehnsucht nach Vereinigung“: Zur Auswahl steht die Kennenlern-Szene aus der Tanzoper „Dido und Aeneas“ nach Henry Purcell, oder ein Stück von Dmitri Schostakowitsch auf einem E-Piano von Statkus, während Schröder „dazu 1,5 Liter Wasser trinkt“.

Unter der Rubrik „Unvollkommenheit des menschlichen Körpers“ stellen die zwei Schauspielerinnen die Choreografie von Johann Kresnik aus dem Jahr 1984 zur Auswahl, in der Männer ohne Köpfe die Bühne stürmen und russisches Roulette spielen. „Aber auch wir haben Defizite“, gesteht Statkus und bietet dem Publikum als Alternative, „einen epischen Spagat von Jean-Claude van Damme“ an.

Schröder erklärt mit leiser Stimme, dass ihr Sabine Hesseling vom Wuppertaler Tanztheater ausdrücklich verboten hat, eine eigene Interpretation des Bausch-Stückes vorzuführen. Die beiden Schauspielerinnen zeigen es trotzdem. Im Dunkeln. Keiner der Besucher versucht mit dem Handylicht die Performance der Schauspielerinnen zu sehen.

Danach sieht das Publikum Schröder dabei zu, wie sie 1,5 Liter Wasser trinkt. Dafür braucht sie zehn Minuten. Am Ende, die Flasche am Mund, schluckt sie nicht mehr, das Wasser läuft ihr den Ganzkörperanzug hinunter. Sie sieht aus wie ein Kind, das sich in die Hosen gemacht hat. Dazu spielt Statkus Schostakowitsch auf dem E-Piano.

Im „epischen Spagat“ à la van Damme, legt die Schröder das linke Bein auf eine Stuhllehne, die Stakus, versetzt neben Schröder, das rechte Bein auf eine Lehne. Das geht drei Minuten so. Sonst passiert nichts. Die 40 Gäste klatschen.