Hamburg

Gibt es typisch deutsch?

Was sehen Menschen aus anderen Nationen, wenn sie auf Deutschland blicken? Und hat das mehr mit uns oder ihnen selbst zu tun?

Autor: Anja-Katharina Riesterer

Vorurteilsfrei, weltoffen, globalisiert. Mit diesen Attributen schmückt sich heute jeder gern. Schließlich ist die vernetzte Welt längst zum globalen Dorf geworden, die Kulturen rücken sich näher und die englische Weltsprache bringt alle zusammen. Und doch sind da noch gewisse Bilder im Kopf, mit denen wir Menschen aus verschiedenen Ländern voneinander unterscheiden. Italiener sprechen laut und schnell, Franzosen lieben Croissants, die Briten können kein Fußball spielen – willkommen in der Welt der Stereotype.

Stereotype sind verallgemeinernde Urteile über soziale Informationen. Ethnologieprofessorin Dr. Helena Ruotsala von der Universität Hamburg hat sich auf solcherlei Klischees von Deutschen und Finnen spezialisiert und weiß, dass Finnen die Deutschen gern als gute Fußballspieler und fleißig bezeichnen, während bei uns die Finnen als sehr schweigsam gelten. Ruotsala weiß auch, dass solche Stereotype sozio-kulturell eine ganz bestimmte Funktion haben. „Wenn wir keine, wenig oder nicht genug Kenntnisse über fremde Leute haben, helfen Stereotype uns, uns in unterschiedlichen sozialen Kontexten zurechtzufinden. Sie ordnen und systematisieren unser Wissen.“ Gerade wenn uns etwas unbekannt erscheint, erleichtern sie den Alltag, weil wir das fremde Verhalten nicht überdenken müssen. Wir wissen, was normal ist und können alles andere bequem als typisch russisch oder chinesisch abstempeln, ohne die eigenen Werte infrage stellen zu müssen.

Alles eine Frage der Prägung

Was wir normal finden, hängt davon ab, wie wir geprägt wurden. Während es in Deutschland gängig ist, einen Vertrag detailliert abzusichern und sich daran zu halten, sehen die Chinesen ihn als Geschäftsgrundlage, die im Laufe der Zusammenarbeit angepasst werden kann. Dies führt oft zu Missverständnissen: In China heißt es dann, die Deutschen seien stur und perfektionistisch, umgekehrt werden die Chinesen für umständlich gehalten. In beiden Fällen wird das Fremde zum negativen Klischee, sodass der eigene kulturelle Rahmen als richtig erhalten werden kann.

Tatsächlich lässt sich durch Stereotype oft am meisten über die Kultur erfahren, die sie im Kopf hat. Wenn Portugiesen also über die für sie „typisch deutsche“ Arbeitsmoral staunen, lässt sich daraus nur bedingt ableiten, dass in Deutschland übereifrig gearbeitet wird. Erst einmal zeigt es nur: verglichen mit der portugiesischen, eher lockeren Arbeitsweise arbeitet man in Deutschland sehr emsig. Menschen aus asiatischen Ländern, die als noch arbeitstüchtiger gelten, halten das deutsche Arbeitsleben nämlich für vergleichsweise entspannt.

Gibt es also typisch deutsch – oder nicht?

Fünf junge Menschen aus Hongkong, Großbritannien, Russland, Österreich und Portugal erzählen über ihr Bild von Deutschland und den Deutschen – und das bevor und nachdem sie hier gelebt haben. Welche Stereotype kannten sie und haben diese sich bestätigt? Gibt es tatsächlich etwas typisch Deutsches, das sie alle feststellen, oder ist alle Wahrnehmung abhängig von der Herkunftskultur?

Tracy aus Hongkong: „Harte Arbeit? Von wegen!“

Grillen auch im Winter – das fehlt Tracy (24) noch zu ihrem absoluten Deutschland-Glück. Fotos: Anja-Katharina Riesterer

„Wer von euch weiß, was Eisbein ist? Wenn es nach meinen Landsleuten geht, esst ihr Deutschen den ganzen Tag nichts anderes – außer vielleicht Bratwurst, zurAbwechslung. Bevor ich nach Deutschland kam dachte ich außerdem, dass ihr ziemlich ernst und langweilig seid und unfassbar hart arbeitet. Ernst seid ihr tatsächlich – auf gute Weise. Ihr nehmt eure Aufgaben ernst und führt sie gewissenhaft durch. Auch langweilig seid ihr mit eurem routinierten Lebensstil. Für Studenten gibt es nichts außer Uni, Party und Sport – das ist in Hongkong ganz anders. Wir haben für jede Aktivität Gruppen und Clubs, das geht von Sport über Schach bis hin zu Karaoke oder Kochen.

Früher dachte ich, alles was für euch zählt, wäre harte Arbeit - aber von wegen! Ihr wollt sie zwar perfekt machen, seid aber irgendwann auch fertig und genießt eure Freizeit lange bevor es einer meiner Landsleute tun würde. Zehn bis zwölf Stunden sind bei uns normal – nicht zuletzt weil wir weniger Arbeitnehmerrechte haben und man um seinen Job fürchten muss, wenn man nicht mithält.

Eisbein konnte ich bei euch bisher nirgends entdecken. Viele meiner deutschen Freunde wissen noch nicht mal, was das ist. Ganz anders die Bratwurst, sie ist mein deutsches Lieblingsessen geworden. Zu schade, dass man bei euch nur im Sommer grillt. Das will ich ändern!“

Simon aus Großbritannien: „Ihr seid die Biernation!“

Nicht nur diesen Deutschlandbesuch hat Simon (27) mit Bier gefeiert – alle anderen 18. auch.

„Ich komme aus einer jüdischen Familie und habe Deutschland immer mit dem Zweiten Weltkrieg assoziiert. Das liegt einerseits an meinem familiären Background – es gibt jüdische Verwandte, die noch heute niemals nach Deutschland reisen würden – aber auch am nationalen. Denn bei uns lernen wir unglaublich viel über diesen Krieg in der Schule und sind auch ein bisschen Stolz, ihn gewonnen zu haben.

Bevor ich in Deutschland war, kannte ich außerdem Schlagworte wie Merkel, Bratwurst und Dirndlkleid und war überzeugt, dass alle Deutschen gerne und viel Bier trinken. Heute liebe ich Deutschland, besonders Berlin mit den beeindruckenden Gebäuden. Der Reichstag hat es mir sehr angetan. So düster und unfreundlich, wie ich mir Land und Leute vorgestellt habe, ist bei euch gar nichts. Alle Menschen, die ich treffen durfte, waren warmherzig, freundlich und außergewöhnlich offen. Das fällt übrigens auch politisch auf, denn ihr seid viel proeuropäischer als wir Briten.

Von der Kultur und den Werten her finde ich, dass unsere Länder sehr viel gemeinsam haben – man denke an Grundwerte wie Familie und Bildung. Was das Essen anbelangt, bin ich nicht sicher, dafür sind wir Briten ja eher berüchtigt als berühmt. Ein Deutschenklischee, das sich für mich im Übermaße bestätigt hat ist eure Liebe zum Bier. Ihr seid wirklich eine Biernation - Wahnsinn, wie ihr saufen könnt!"

Pedro aus Portugal: Pünktliches, ordentliches Partyvolk

Mit typisch deutscher Strickmütze ist Pedro (27) der Held unter seinen portugiesischen Freunden.

„Bei uns in Portugal sieht der typische Deutsche so aus: dick, groß, Bratwurst essend. Bevor ich herkam, kannte ich Begriffe wie Autobahn, Merkel und Oktoberfest – und ich dachte, dass ihr hart arbeitet und ziemlich humorlos seid. Aber weit gefehlt – ihr seid ein herzliches, lustiges und hilfsbereites Völkchen. Und immer so wahnsinnig ordentlich und pünktlich. In Portugal sagen wir oft, dass es kein Wunder ist, wie es um unser Land steht, weil einfach nichts nach Plan läuft. Da können wir wirklich was von euch lernen – sogar die U-Bahn kommt in Deutschland schließlich auf die Minute genau!

Bei eurer Disziplin kann wirklich kein Portugiese mithalten, das hat sich für mich auch in der deutschen Arbeitsmoral gezeigt. Was mich überrascht hat, ist, wie gerne ihr danach zum Partymachen raus geht – in meiner Deutschlandzeit habe ich so viel gefeiert und so viel Bier getrunken wie nie zuvor!

Mein neues Bild von typischen Deutschen ist außerdem von diesen gestrickten Wintermützen geprägt, die ihr alle tragt. So eine habe ich mir auch geholt, damit bin ich in Portugal der Held!“

Claudia aus Österreich: „Socken in Sandalen und ein beachtlicher Bierbauch!“

Mit Bierflasche, Karohemd, kurzer Hose und Socken in Sandalen wird Claudia (21) zum typisch deutschen Touri.

„Ihr Deutschen seid für uns Österreicher die Piefkes. Ich kenne das aus einer Filmreihe der Neunziger, in der die deutschen Touristen veräppelt werden – Bilder, die fest in den Köpfen der Tiroler sitzen. Schon optisch kommt ihr dabei nicht gut weg: Socken in Sandalen und beachtliche Bierbäuche. Dazu charakterlich Besserwisserei und unzähmbare Wanderambitionen, die aber bereits auf der ersten Hütte beim Anblick eines Bieres zum Erliegen kommen. Das Touriverhalten kann ich aus ganzem Herzen bestätigen – aber wenn man bei euch in Deutschland ist, wird vieles anders. Ich habe euch als bodenständig und ehrlich erlebt, was besonders für die Norddeutschen gilt. Man muss niemanden mit Samthandschuhen anfassen, das gefällt mir ausgesprochen gut. In Tirol sind nämlich alle stets herzlich und höflich, aber das kann auch scheinheilig sein.

Generalisieren lässt sich bei euch Deutschen ansonsten wenig – vieles ist regionenabhängig. Die Bayern sind tatsächlich nicht nur geographisch näher an uns Ösis dran. Wenn in München die Bahn überfüllt und dazu verspätet ist, nimmt mans mit Humor, während die Hamburger gerne meckern und sich davon den Tag verderben lassen. Ihr könntet euch ruhig mal mehr entspannen. Wenn ihr das mal versucht, so konnte ich feststellen, hat nämlich manch ein Piefke das Zeug zur Tiroler Frohnatur!“

Valeria aus Russland: Deutschland ist Schorlenland

Im Schorlenland Deutschland experimentiert Valeria (23) mit Fruchtsäften und Weinen.

„Mal ganz im Ernst: auch Deutsche sind mal unpünktlich! Ich gebe es zu, vor meiner Zeit in Hamburg dachte ich, dass ihr nur Bier trinkt und Bratwurst esst. Dass ihr strukturiert, wahnsinnig pünktlich und humorlos seid. Und ihr seid in Russland sehr bekannt für Pornos – bei uns weiß jeder, was „jaa, das ist fantastisch“ bedeutet. Aber das sind wirklich nur Klischees.

Etwas speziell kommt mir zwar euer Hang zum öffentlichen Nacktbaden vor, so was gibt es in meiner Heimat nicht. Und darüber bin ich froh, denn ich möchte meine Großeltern nicht nackt am Strand sehen. Aber ansonsten bin ich sehr beeindruckt von den Deutschen. Ihr könnt alles so detailliert planen und umsetzen. Davon können wir Russen uns viel abgucken, wir strengen uns nämlich nur an, wenn wir jemandem etwas beweisen wollen. In puncto Essen habe ich in Deutschland mehr als Bier und Wurst kennengelernt. Besonders gut gefällt mir die Angewohnheit, am Wochenende lange zu frühstücken.

Das mache ich jetzt auch immer! Darüber hinaus ist Deutschland für mich das Land der Schorlen – ihr experimentiert so toll mit Säften und Weinen, das kannte ich vorher nicht.“

Fazit: Pünktlichkeit, Fleiß, Bier und Bratwurst, nehmen mehrere Nationen an uns wahr. Das bestätigt auch Professorin Helena Ruotsala: „Stereotypen über die Deutschen besagen, dass sie ordnungsliebend, fleißig, und pedantisch sind“. Vergleicht man die Deutschen mit anderen Kulturen, sind diese Bilder tatsächlich oft zutreffend. Auch das Bier-Bratwurst-Image kommt nicht von ungefähr. Die Wurst ist bei uns seit dem dem 11. Jahrhundert als ursprüngliche „pratwurst“ besonders populär - und Deutschland hat mit 106 Litern im Jahr den drittgrößten Bierkonsum pro Kopf in Europa.

Was die anderen Klischees anbelangt, verändern sie sich nach einem Deutschlandaufenthalt oft, wie man es an Valerias Bild von der deutschen Pünktlichkeit und Tracys Blick auf das Arbeitsleben gesehen hat. Und das bestätigt: es gibt typisch deutsche Aspekte, die im Vergleich zu anderen Kulturen besonders auf uns zutreffen. Andere werden nur deshalb wahrgenommen, weil sie einer bestimmten Kultur besonders erscheinen. In beiden Fällen handelt es sich um Stereotype, die von der eigenen Prägung beeinflusst sind und bei der Einordnung des Fremden helfen – bis es kennen gelernt wird und das Bild sich wandelt.

Darauf gönnen wir uns jetzt alle erst mal ein Astra, oder? Prost!