Mexiko
Haben Sie schon zu Mittag gegessen?
Eine Reportage aus Mexiko-Stadt.
Autor: Paul Burba
Mexiko – ein buntes, vielseitiges und atemberaubendes Land. Über 120 Millionen Einwohner zählt die „Brücke“ zwischen den Vereinigten Staaten und Südamerika. Aber nicht alles ist schön: Korruption und Arbeitslosigkeit plagen den Staat und seine Bürger. Die Bosse der Drogenkartelle scheinen Mexiko insgeheim, nach ihren Belieben, zu lenken. Zuletzt machten 40 ermordete und verschüttete Studenten internationale Schlagzeilen. Das erste Mal seit langem gingen die Mexikaner auf die Straßen und demonstrierten gegen ihr Staatsoberhaupt. Die junge Generation zieht es ins Ausland. Aber warum ausgerechnet nach Deutschland?
„Haben Sie schon zu Mittag gegessen?“ Aljosha schaut Vania erwartend an. „DU! Hast DU schon zu Mittag gegessen?“, verbessert er sie. Manchmal merke man noch, dass Vania hauptsächlich von ihrem Vater und ihrer Großmutter deutsch gelernt habe. Sie sei sehr höflich und förmlich, sagt Aljosha. Zusammen sitzen sie auf einer Bank im Schatten neben der Sporthalle. Die Arme ineinander geschlungen. Aljosha kommt aus Deutschland. Vania aus Mexiko. Die beiden sind ein Paar. Sie sprechen deutsch.
Vanias Großmutter kam 1950 nach Mexiko. Der Liebe wegen. Ihren vier Söhnen hat sie versucht, so gut es eben ging, ihre Muttersprache beizubringen. Nur einen von ihnen hat es bis jetzt kurzzeitig geschäftlich nach Deutschland verschlagen. Vanias Vater und die anderen zwei waren noch nie in der Heimat ihrer Mutter.
Bevor Vania die deutsche Schule in Mexiko-Stadt besucht hat, waren es ausschließlich die Verwandten, die ihr die fremde Sprache beigebracht haben. Das sei für sie schon eine Umstellung gewesen, aber unbedingt nötig, wenn sie nach Deutschland wolle, gibt sie zu. Und das will sie.
Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Motivation. Das sind alles Dinge die Vania bei ihren Freunden – mal mehr, mal weniger – vermisst. Das sind alles Tugenden, für die Deutschland weltweit bekannt ist und die die junge Mexikanerin in Deutschland zu finden hofft. Sie studiert Informatik an einer privaten Universität in Monterrey im Bundesstaat Nuevo Leon, nicht weit von der US-Amerikanischen Grenze. Möglich ist das für sie nur durch ein Stipendium. Sie spielt Volleyball für die Mannschaft der Hochschule und ist an den Wochenenden im ganzen Land unterwegs. Anders könnte sie sich das Studium nicht leisten. Und so kommt es, dass sie auch gleich los muss zum Training und Aljosha auf der Bank zurücklässt.
Um auch in Deutschland finanziell unterstützt zu werden, hat sie sich an den „Deutschen Akademischen Austauschdienst“ (DAAD) gewandt. Die Einrichtung mit Sitz in Bonn kümmert sich um ausländische Studenten, die in Deutschland studieren wollen und um deutsche Studenten, die im Ausland studieren möchten. Sie ist die größte ihrer Art in der Bundesrepublik.
Kritisch wandert sie mit den Augen über ihre Checkliste. „Das Problem an einer Checkliste ist“, sagt Marilu, „dass auch alles drauf stehen muss. Ansonsten hat man trotzdem nicht alles mit.“
Sie packt ihren Koffer für ein ganzes Semester. Ein Semester in Brandenburg an der Havel. Dafür seien 23 Kilo zu wenig. Allein die ganzen Jacken. Sie werde am Flughafen wohl draufzahlen müssen.
Was sie in Brandenburg erwartet, weiß sie selbst nicht so genau: „Ich habe gelesen, dass es in der Nähe von Berlin ist. Viel mehr weiß ich nicht.“ Wir unterhalten uns auf Englisch. Sie spricht zwar ein wenig deutsch, ist aber schüchtern und traut sich kaum es zu benutzen – aus Angst vor Fehlern. Auf die Frage, warum sie sich ausgerechnet Deutschland für ihr freiwilliges Auslandssemester ausgesucht hat, antwortet sie nur: „Not me! Dad did.“
In zwei Tagen fliegt sie.
Laut dem „Nation Brands Index“ von 2014 ist Deutschland das am besten angesehenste Land auf der Welt vor den USA und Großbritannien. Das Land mit dem besten Image. 2013 war Deutschland noch auf dem zweiten Platz.
Dr. Heinz Karow, Leiter einer deutschen Austauschorganisation in Mexiko-Stadt, begründet das unter anderem so: „Die jungen Mexikaner haben verstanden, dass sie etwas leisten müssen, um etwas zu ernten. Internationale Erfahrung durch Studium oder Praktika sind gern gesehen. Die USA liegen als Austauschpartner natürlich nahe, sind allerdings teuer. Auf der Suche nach Alternativen hat sich Deutschland von seiner besten Seite gezeigt und nach vorne katapultiert.“
Damit meint Karow nicht nur den WM-Titel der deutschen Mannschaft vergangenen Sommer. Auch die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung genießen im Ausland hohes Ansehen.
Kein Wunder also, dass zum Beispiel der DAAD im Jahr 2013 über 1000 Mexikanische Studenten in Deutschland verzeichnete. Die Prognosen für das vergangene Jahr sagen sogar noch einen Zuwachs um 50% voraus.
Im Wintersemester 13/14 waren 11,5% der ca. 2,6 Million Studierenden in Deutschland aus dem Ausland. Mexiko stellt dabei die größte Delegation aus dem lateinamerikanischen Raum.
Mittlerweile ist Marilu in Brandenburg angekommen. Die ersten zwei Nächte hat sie in Berlin in einem Hotel verbracht. Draußen ist sie nicht gewesen. „Jetlag“, sagt sie. Nun hat sie ihr Zimmer in einem Studentenwohnheim bezogen. Ein Bett, ein Schrank und ein Tisch mit Stuhl. Mehr steht nicht drin. Und es macht auch nicht den Anschein, als ob sich das noch ändern würde. Um ganz genau zu sein, macht es den Anschein, als ob Marilu das auch nicht möchte. Bloß nicht heimisch werden, schnell wieder nach Hause. Ihr Studium beginnt im März, ihr Rückflug geht im Juli. Noch genug Zeit, um sich weiter einzuleben.
Sie versucht zwar nach außen hin glücklich und zufrieden zu wirken und spricht über ein paar Freunde, die sie schon kennengelernt hat. Wenn man genau hinhört merkt man aber, dass sie sich alles andere als wohl zu fühlen scheint: „Das Essen ist natürlich nicht wie in Mexiko. Und die Leute auch nicht. Viele können auch kein Englisch. Dann muss ich Deutsch reden.“ Ihr Deutsch klingt unverändert. Nur noch ein bisschen verunsicherter.
Für Anne Hermanns von der Psychologischen Beratungsstelle im Studentenwerk Potsdam ist das nichts Neues. Sie macht einen Trend aus: „Viele der Austauschstudenten sind nicht aus eigenem Willen hier. Das höre ich immer wieder. Der Druck von zu Hause spielt häufig eine große Rolle.“
Spricht man Marilu darauf an, blockt sie regelmäßig ab. Sie spricht generell nicht gerne über ihr Elternhaus. Und wenn, dann meist gezwungen wohlwollend. Finanziell unterstützen die Eltern ihre Tochter voll und ganz. Marilus Vater arbeitet für ein Finanzunternehmen in Chicago. Ihre Mutter ist Hausfrau, verbringt viel Zeit im Casino.
Anders bei Vania. Sie ist ihren Eltern dankbar, dass sie hinter ihr stehen. Auch wenn sie ihr finanziell nicht viel Unterstützung bieten können. Wenn sie es schafft, verkauft sie auf dem Campus selbstgebackene Kekse, um sich etwas dazuzuverdienen. Für den Flug nach Deutschland wird schon lange gespart. Keine Selbstverständlichkeit. Familienzusammenhalt, im wahrsten Sinne des Wortes, wird bei den Mexikanern groß geschrieben. Eltern lassen ihre Kinder, vor allem Töchter, nur ungern flügge werden und gehen. Vanias Eltern unterstützen sie zwar; sie wissen um die Zukunftschancen ihres Kindes in Deutschland, mit denen Mexiko nicht mithalten kann. Dennoch hoffen sie, dass ihre einzige Tochter schnellstmöglich zurückkommt.
Die ganze Familie sitzt zusammen beim gemeinsamen Abendessen. Morgen ist Vanias großer Tag. Die schriftliche Prüfung für das Stipendium beim DAAD steht an. Besteht sie mit mindestens 85 von 100 Punkten, dann ist der größte Schritt in Richtung Deutschland gemacht. Aus allen Ecken des Tisches wird der 20-jährigen Mut zugesprochen. Die Atmosphäre ist locker, aber bestimmt. Vania sagt, sie fühle sich gut vorbereitet. Heuten sprechen alle deutsch. So gut sie können. Aljosha sitzt mit am Tisch.
Er reist nächste Woche ab. Die beiden wollen versuchen den Kontakt zu halten und sich in Deutschland wiederzusehen. Wenn er bei hier seiner Freundin übernachtet, dann schlafen sie in getrennten Zimmern. Das es in Deutschland womöglich anders laufen könnte, ahnt hier wahrscheinlich keiner außer ihm. Dabei ist die Familie sehr offen und für mexikanische Verhältnisse nicht sehr konservativ.
In Vanias Zimmer hängt eine Deutschlandflagge. Daneben ein Poster der Stadt Münster. Dort kommt ihre Großmutter ursprünglich her, dort möchte sie hin. Sie weiß alles über Münster. Größe, Bevölkerung, amtierender Bürgermeister usw...Sie hat alles über die Stadt gelesen und angeschaut, was sie finden konnte. Besonders interessiert sie sich für die ansässige Universität. Die Bewerbung liegt längst fertig geschrieben und dreimal überarbeitet auf ihrem Schreibtisch. Ob sie sich auch wirklich bewerben darf, das ist vom Ausgang des nächsten Tages ausschlaggebend. Zur Vorbereitung war sie noch im Kino. „Oh Boy“ mit Tom Schilling in der deutschen Originalversion mit spanischen Untertiteln hat sie sich angeschaut. Der Film hielt sich immerhin drei Wochen in den Top 5 der mexikanischen Kinocharts. Die Filmindustrie hat die Affinität ihrer Konsumenten zu Deutschland längst bemerkt. „Guten Tag, Ramón“ z.B. ist eine mexikanisch-deutsche Co-Produktion über einen jungen Mexikaner, der sich in Deutschland ein besseres Leben erhofft, aber zunächst mit kulturellen Barrieren zu kämpfen hat. Der Film wird auch in Deutschland erscheinen.
Wenn man über den Campus der „Tecnologico de Monterrey“ (TEC), der Universität an der Vania studiert, spaziert, dann sieht man immer wieder mexikanische Studenten in Trikots deutscher Fußballklubs oder der Nationalmannschaft. Die Bundesliga läuft regelmäßig im mexikanischen Sportfernsehen, die Champions League sowieso. Natürlich ist auch die Leistung der deutschen Nationalelf bei der WM nicht an den Mexikanern vorbeigegangen. Man hat sich mit den Erzfeinden, der seit dem Achtelfinal-Aus gehassten Holländern, koaliert. Insgesamt sind deutlich mehr deutsche als spanische oder englische Trikots zu sehen. Ein wenig skurril ist es schon, dieses neue deutsche Ansehen in der Welt.
Noch viel skurriler ist allerdings, dass man an jeder zweiten Ecke Studenten deutsch sprechen hört. Mexikaner mit Mexikanern, Mexikaner mit Deutschen und Deutsche mit Deutschen. Auch für Deutsche ist Mexiko ein beliebtes Austauschziel. Allein im Sommersemester 2014 waren über 200 deutsche Austauschstudenten an Kursen der TEC eingeschrieben. So viele wie aus keinem anderen Land.
Spricht man die Mexikaner an, dann sind es meistens Ingenieure, die den Ehrgeiz haben die fremde Sprache zu lernen und ins weit entfernte Land nach Europa zu gehen, um eine neue Kultur kennenzulernen und dort Fuß zu fassen. Jeder von ihnen belegt zusätzliche, freiwillige Sprachkurse. Die Erwartungen und Kenntnisse von Deutschland sind verschieden. Einige wissen nur, dass es auch mal kalt werden kann. Andere können genau sagen wie viel ein Busticket im Hamburger Nahbereich kostet. Alle schwärmen von den deutschen Tugenden und Arbeitsmöglichkeiten. In die Vereinigten Staaten will kaum einer. An Platz zwei steht China oder Indien. Irgendwas in Asien auf jeden Fall.
Drei Wochen sind vergangen, seit Vania den Test geschrieben hat. Sie ist sichtlich aufgeregt. Sie hält den Umschlag mit den Ergebnissen, die über ihre nähere Zukunft entscheiden, in den Händen.
Als sie ihn öffnet, ist es still. Ohne etwas zu sagen wird sie von ihren Eltern umarmt. Sie schluchzt. 83 Punkte. Zwei zu wenig, um direkt ein Stipendium zu bekommen. Dafür drei genug, um für die mündliche Nachprüfung zugelassen zu werden. Vor allem eine Übung mit Sprachbausteinen, bei denen man hauptsächlich Lückentexte ausfüllen muss, hat sie Punkte gekostet. „Ich glaube, ich war zu ungenau“, resümiert sie selbst. Sie muss eine weitere Woche zittern, bis sie endlich Gewissheit hat.
Inzwischen hängen einige Bilder an den Wänden in Marilus Zimmer. Sie wirkt aufgeschlossen, begrüßt auf Deutsch. In den letzten Wochen hat sich einiges geändert. Sie hat jetzt einen festen Freund, geht häufig aus. Um die Zeit bis zu ihrem Studium zu überbrücken, geht sie außerdem zum Sport und liest deutsche Kinderbücher. „Harry Potter und der Stein der Weisen“ liegt auf ihrem Tisch.
Sie schwärmt für WM-Helden Götze. Als nächstes will sie ein Spiel des FC Bayern München besuchen. Am liebsten in München, damit sie die Stadt gleich auch noch erkunden kann.
„Ich will das Beste aus meiner Zeit machen. Warum soll ich nur in meinem Zimmer sitzen“, fragt die 24-Jährige. Es scheint, als habe Marilu sich mit ihrer Situation nicht nur arrangiert. Es gefällt ihr.
Aber auch das sei ein regelmäßiges Phänomen sagt Anne Hermanns: „Ob freiwillig oder nicht. Der Großteil der Austauschstudenten berappt sich nach anfänglichem Heimweh oft schnell wieder. Die meisten Studenten gehen mit positiven Erinnerungen nach Hause.“
Die Tür geht auf. Vania strahlt. Keiner ist da, um sie zu beglückwünschen. Sie wollte das nicht. Zu Groß war die Befürchtung mit schlechten Nachrichten aus der mündlichen Prüfung zurückzukommen. Aber natürlich ruft sie als Erstes ihre Eltern an: „Ich habe bestanden, ich darf nach Deutschland“, schreit sie halb deutsch, halb spanisch ihren Vater durch das Telefon an. Auf der anderen Seite der Leitung hört man ebenfalls Freudengeschrei.
Die Prüfer haben ihr besonderes Potential bestätigt und ihren Fleiß belohnt. Sie wird ein Stipendium bekommen, welches 80% ihrer Kosten vor Ort decken wird. Ihr Traum ist in Erfüllung gegangen.
Jetzt ist nur noch die Frage, ob sich auch ihre Erwartungen erfüllen werden. Auf die Frage, worauf sie sich denn nun am meisten freue, antwortet Vania mit einem breiten Grinsen im Gesicht und nicht ganz ernst: „Nutella!“
Da wird sie auf jeden Fall nicht enttäuscht.
Auf die Frage, womit man in Deutschland bezahlt, haben sie weder die Bücher ihrer Großmutter noch der Unterricht vorbereitet: „Deutsche Mark?“
Im Endeffekt liegt es an jedem selbst, was er oder sie aus seiner Zeit im Ausland macht. Erwartungen und Ziele sind unterschiedlich. Einige gehen freiwillig, andere werden gedrängt. Einige wollen schnellstens wieder weg, andere wollen ewig bleiben. Vania hat erzählt, dass sie ihre Prüfer beim mündlichen Test geduzt hätte, wie es ihr Aljosha immer beigebracht hat. Diese hätten ihr zwar gesagt, dass das zwar nicht angemessen sei, aber das es auch Teil ihrer Kultur sei und verzeihbar wäre.
Fest steht, dass das Miteinander immer globaler wird und nicht nur fremde Sprachkenntnisse zählen. Das interkulturelle Verständnis wird immer wichtiger auf dem weltweiten Arbeitsmarkt. Und Kultur versteht man immer noch am besten, wenn man sie (er-)lebt und nicht wenn man darüber liest.
Deutschland – ein demokratisches, innovatives und reiches Land. Etwa 80 Millionen Einwohner zählt die Bundesrepublik im Herzen Europas. Aber auch hier ist nicht alles schön: Arbeitslosigkeit und Steuern plagen die Einwohner. Menschen gehen auf die Straßen und demonstrieren gegen die „Islamisierung des Abendlandes“.
Und trotzdem zieht es Studenten aus Mexiko und dem Rest der Welt nach Deutschland. Das kann doch nicht nur am Weltmeistertitel liegen.
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