Hamburg

Integration durch Sport

SC Urania als Hamburger Paradebeispiel für das DOSB-Programm „Integration durch Sport“.

Autor: Roman Gerth

An der Grenze der beiden Hamburger Bezirke Dulsberg und Barmbek-Süd, genauer: in der Sporthalle der Schule „Lämmersieth“, trainieren die F-Jugend-Fußballer des SC Urania. Warmlaufen, Ballübungen im Kreis, ein Abschlussspiel – im Grunde genommen eine gewöhnliche, altersgerechte Übungseinheit. Doch unauffällig und ohne, dass es auf den ersten Blick zu sehen ist, findet genau dort Integration statt.

Die Kinder heißen Emre, Sergej oder Christoph, einige Eltern schauen beim Training zu, sie reden in den Pausen mit ihren Söhnen auf türkisch oder russisch. Mit einem unbekümmerten Selbstverständnis nimmt sich Trainer Thomas Sieg seinen Spielern an, keine Spur von fehlender Akzeptanz oder Vorurteilen.

Integration inklusive: Deutsche Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund trainieren zusammen in der F-Jugend des SC Urania – und sind mit Spaß bei der Sache.

„Als wir das Programm 'Integration durch Sport' in unserem Verein vorgestellt haben, fragten uns einige Übungsleiter, was denn genau das Neue daran sei“, erzählt Sylke Weise. Die Erste Vorsitzende des Sport-Club Urania sitzt gemeinsam mit ihrem Mann Andreas in einem kleinen Büroraum im Keller der Geschäftsstelle, genau gegenüber der Lämmersieth-Sporthalle. Die beiden erzählen von der Entwicklung des Vereins seit Mai 2012. Zu diesem Zeitpunkt wurde der SCU Stützpunktverein für das Programm „Integration durch Sport“ des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). „Für uns als Sportverein in einem Bezirk mit einer hohen Zahl von Migranten gehört die Eingliederung von Muslimen zum Alltag. Genau aus diesem Grund waren einige Trainer überrascht, was sich denn durch das Projekt verändern würde“, berichtet Weise über die verwunderten Blicke und Fragen innerhalb des Vereins.

Deutschland, Real Madrid und der HSV: Der Trikot-Mode sind keine Grenzen gesetzt.

„Integration durch Sport“ ist ein bereits seit 1989, also seit mehr als 25 Jahren, bestehendes Konzept des DOSB zur Eingliederung ausländischer Mitbürger in den Sport und die Gesellschaft. „Der Bedarf ist groß, das zeigen die Statistiken der letzten Jahre“, sagt Kristjana Krawinkel, Koordinatorin für Integration des Hamburger Sportbundes (HSB), dem Hamburger Landesverband des DOSB. „Unsere öffentliche Wahrnehmung hat seit einigen Jahren deutlich zugenommen, das liegt vor allem an der steigenden Wichtigkeit des Themas seit 2005. Erst ab diesem Zeitpunkt hat sich Deutschland als Einwanderungsland wahrgenommen.“ Einige Vereine kämen seitdem auf den HSB zu, um Information zu erhalten und sich als Stützpunktverein registrieren zu lassen. Darüber hinaus hat der Sportbund selbst erkannt, welchen Stellenwert das Thema innerhalb der Gesellschaft hat. Die Außendarstellung wurde angeglichen, die Präsenz nahm deutlich zu.

Zweieinhalb Jahre nach dem Startschuss ist der SC Urania ein vorbildliches Beispiel für die integrative Arbeit, gerade der Frauensport bildet eine wichtige Stütze. Dass Kinder mit Migrationshintergrund die Angebote des SC von klein auf wahrnehmen und dort der erste Schritt in Richtung Integration getan wird, ist über Jahre zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die verwunderten Stimmen aus dem Verein, was denn nun anders werde als vorher, zeigen das. „Das ist natürlich hervorragend, das unterstreicht die positive Entwicklung“, meint Krawinkel. „Trotzdem gibt es immer noch Gruppen, bei denen eine solch problemlose Eingliederung noch nicht die Regel ist.“ Damit meint die Landeskoordinatorin genau die Gruppen, die auch außerhalb der Integrationsarbeit häufiger durchs Sieb fallen: Frauen, Ältere und bildungsferne Schichten.

Die F-Jugendlichen des SC Urania sind mit vollem Engagement dabei, Übungsleiter Thomas Sieg schaut begeistert zu.

Der jüngste Freiwilligensurvey, mit dessen Hilfe der DOSB seit 1999 im Fünf-Jahres-Rhythmus die Aktivität und den ehrenamtlichen Einsatz im Sport abfragt, bestätigt das. Im Vergleich zum Ergebnis von 2004 zeigte sich 2009 eine Steigerung in der Zahl der Migranten, die aktiv Sport machen. 38% aus dieser Gruppe gaben bei der repräsentativen Umfrage an, Mitglieder eines Vereins zu sein. Im Verhältnis zu Personen ohne Migrationshintergrund ergibt sich nur ein Unterschied von fünf Prozentpunkten. Doch gerade im Hinblick auf aktive Frauen, Rentner und Bürger mit niedrigem Bildungsabschluss wird der Förderungsbedarf deutlich. Lediglich 13% der weiblichen Befragten mit ausländischen Wurzeln (im Vergleich zu 22% der Männer) sind Mitglied in einem Verein. Rentner in der betreffenden Gruppe stehen zwar mit 14% recht gut da, allerdings sind das 10% weniger als in der Gruppe der Jugendlichen und Erwerbstätigen.

„Genau dieses Klientel spricht das Programm an. Der Ansatz einer bedarfsorientierten Konzeption - also Angebote genau dort zu schaffen, wo sie benötigt werden - spielt hierbei eine wichtige Rolle“, weiß Krawinkel. Deshalb steckten der DOSB und dessen Landesverbände viel Energie in die Umsetzung des Integrationsprogramms. Mit dem SC Urania hat der HSB einen Verein ins Boot geholt, der hervorragende Arbeit leistet.

Fahrradfahren ist für viele muslimische Frauen keine Selbstverständlichkeit. Der SC Urania schafft Angebote für Muslima, um das zu ändern.

„Wir haben 2012 eine Gruppe für muslimische Frauen ins Leben gerufen, denn der HSB hatte nach einem solchen Angebot gesucht“, sagt Andreas Weise, der gemeinsam mit seiner Frau die Führung des Vereins übernimmt. „Ein Mal die Woche konnten Muslima eineinhalb Stunden Sport machen. Die Resonanz war riesig, wir ahnten, dass wir einen Stein ins Rollen gebracht hatten“, erinnert sich der Hamburger. Mittlerweile bietet der SCU an drei Abenden und einem Vormittag Frauensport an. „Die Hallenzeiten fürs Schwimmen beispielsweise sind eng, es ist schwierig, wenn zu viele Personen gleichzeitig da sind. Wir sind eigentlich zu gut besucht“, scherzt Weise.

Die Möglichkeiten, die der Dulsberger Sportverein für Muslima schafft, bereichern den Stadtteil und bringen sichtbare Erfolge hervor. Seyhan Döger, die als Netzwerkerin im Stadtteil engagiert ist, hat den Verein den Frauen mit Migrationshintergrund ans Herz gelegt, viele sind geblieben, haben sich als Mitglied angeschlossen – und Döger selbst ist mittlerweile Vorstandsmitglied. „Für die Frauen, die hier leben, war Urania wie eine Fee, die Wünsche erfüllt“, sagt die in Deutschland geborene Muslimin. Sie spielt innerhalb des Frauensports und auch des gesamten Clubs eine wichtige Rolle, vereint

Netzwerkarbeit mit Ehrenamt und knüpft wichtige Verbindungen innerhalb des Vereins. So ist sie beispielsweise für die arabische Übersetzung der Texte auf der Homepage verantwortlich und übernimmt die Kommunikation derjenigen, die die deutsche Sprache noch nicht gut genug beherrschen.

So wie Döger sind auch andere Frauen im Verein über die Teilnahme am Training hinaus engagiert. „Alle Übungsleiterinnen sind aus der Gruppe herausgewachsen, so steht ein reger Kreislauf, der die Möglichkeiten des Programms offenbart“, erklärt Sylke Weise. Der Schritt von der Mitgliedschaft zum Ehrenamt wird immer häufiger genutzt, das enorme Potential ist auch aus den Zahlen des Freiwilligensurveys 2009 herauszulesen. Zwei Drittel der befragten Personen mit Migrationshintergrund gaben dabei an, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit für sie in Frage käme. Dieser Anteil ist beachtlich und zeigt, was mit dem richtigen Anreiz möglich ist. „Wir schaffen die Rahmenbedingungen, wir führen die Menschen über den Sport zusammen“, resümiert Weise.

HSB-Landeskoordinatorin Krawinkel fügt jedoch hinzu, „dass der Rahmen alleine nicht ausreicht. In der ersten Phase muss man die Leute begleiten, ihnen zur Seite stehen – nur dann gibt es wirklich eine Chance, sie längerfristig zu integrieren.“ Diese Arbeit kostet Zeit. Diese Zeit ist, gerade in kleineren, ehrenamtlich geführten Vereinen kaum vorhanden. „Auch da bringt sich der SC Urania hervorragend ein. Integration ist in der Gesamtstruktur verankert und das Programm hat eine Stimme“, so Krawinkel. Man müsse verstehen, dass das Projekt in zwei wichtige Schritte eingeteilt ist.

Die ersten Fortschritte sind erkennbar, diese muslimische Frau sitzt fest im Sattel.

„Zunächst muss der Schritt in den Sport gelingen, damit - darauf aufbauend - die Integration durch den Sport in die Gesellschaft möglich ist.“ Zunächst sehe es womöglich so aus, dass Muslima sehr abgetrennt und hinter blickdichten Gardinen trainieren, um sich abzuschotten. Männer haben keinen Zutritt, da die Frauen ihre Kopftücher ablegen. „Doch es ist ein erster Erfolg, dass die Gruppe überhaupt entsteht. Denn auch deutsche Frauen sind Teil der Gruppe, das ist schon eine Annäherung. Man kann nicht verlangen, dass Integration von jetzt auf gleich passiert. Das Ganze ist ein langwieriger Prozess“, unterstreicht Krawinkel. Wichtig sei es, den Frauen überhaupt Räume zu schaffen, in denen sie sich gemeinsam mit anderen Frauen sportlich betätigen können.

„Wenn wir ehrlich sind: die Fußballer in einem Breitensportverein haben auch nichts mit den Basketballern und die wiederum nichts mit den Handballern zu tun“, macht das Weise-Ehepaar deutlich. „Die Sparten sind zunächst getrennt, bloß hier und da gibt es Berührungspunkte.“ Daraus solle man keine falschen Schlüsse ziehen, „Skeptiker reden dann davon, dass das keine wirkliche Integration sei“, schildert Krawinkel.

Um den erforderlichen zweiten Schritt, also die Integration durch den Sport in die Gemeinschaft zu fördern, bietet der SC Urania Möglichkeiten über den Sport hinaus an. Darunter fallen Stammtische, an denen die verschiedenen Sparten einmal monatlich zusammenkommen, Hausaufgabenhilfen oder Kurse zur Bewältigung der „Behördenwüste Deutschland“. „Das ist eigentlich nicht die primäre Aufgabe eines Sportvereins, aber mit diesen Angeboten zeigt man den Mitgliedern mit Migrationshintergrund, dass sie als essentieller Bestandteil wahrgenommen werden und dazugehören“, so Krawinkel.

Integration ist ein Prozess, der Ressourcen benötigt. Neben dem hohen Zeitaufwand spielt auch die Geldfrage eine Rolle. „Bis 2016 erhalten wir Fördergelder, in unserem Fall sogar für die Schwimm- und Fahrradkurse, an denen auch Kinder teilnehmen. Zudem entrichtet jedes Mitglied, das Teil des Integrationsprogramms ist, sechs Euro Beitrag pro Monat“, listet Weise auf. Doch den Belastungen und materiellen Fragen sollte aus Sicht der Vorsitzenden keine zu große Aufmerksamkeit zukommen. „Das schreckt ab – und man vergisst dabei, was der Verein und die Verantwortlichen dort dazulernen. Ich habe einen anderen Blickwinkel bekomme, bin offener und habe mehr Verständnis für die Probleme, mit denen Muslima auf mich zukommen.“

Gesamtheitlich betrachtet bietet „Integration durch Sport“ für alle Beteiligten Vorteile. „Integrationsbeauftragten in den Vereinen lernen interkulturelle Kompetenz, setzen sich mit dem Thema auseinander. Klar kostet das Zeit und Energie, aber die kritischen Stimmen, die schnell resignieren und am Erfolg zweifeln, werden sowieso nie verstummen“, erkennt Krawinkel.

Sicher hat nicht jeder Hamburger Sportverein das Kontingent, eine solch umfangreiche Arbeit zu leisten. Deshalb freut sich Krawinkel auch schon über kleine Erfolge: „Auch die machen uns stolz, sie sind eine Bestätigung für die Mühen, die wir investieren.“ Die steigende Präsenz von „Integration durch Sport“ in der Öffentlichkeit macht deutlich, dass es sichtbare Fortschritte gibt. In der Politik ist das Programm ebenfalls angekommen. Das zeigt sich daran, dass der HSB eine Stimme im

Integrationsausschuss der Stadt hat, das Projekt Teil des Integrationskonzepts ist. „Alleine schon der Schritt, den Menschen mit Migrationshintergrund den Verein als gesellschaftliche Institution näherzubringen, braucht enorme Kraft. Ein Anschub von politischer Ebene ist sehr hilfreich“, weiß Krawinkel, die das Potential des Programms auch in Zukunft wachsen sieht. Solange das der Fall ist, wird der SC Urania weiterhin über eine Aufstockung der Angebote nachdenken. „Die Kapazitäten sind eng begrenzt, das wird sich in Zukunft kaum verbessern. Da ist ein Umdenken gefragt, um das Kontingent an Sportstätten effizienter zu nutzen“, fordert Andreas Weise.

Das Ziel ist einfach formuliert: Integration für alle. Allein die Umsetzung ist die Herkulesaufgabe. Seit Beginn des Projektes sind 85 Frauen Mitglied des SC Urania geworden, die meisten von ihnen kommen aus afrikanischen Ländern, der Türkei oder Syrien. „Unser Ziel ist es, die Hunderter-Marke zu knacken“, ist Weise optimistisch. Diese Frauen und Mädchen werden allmählich herangeführt, weil sie bisher wenig beachtet wurden. Für die F-Jugendlichen des SC Urania sind diese Probleme allerdings weit weg. Sie treffen sich, wie schon seit einigen Jahren, ein Mal pro Woche in der Lämmersieth-Halle zum Training. Spezielle Maßnahmen zur Integration sind für Emre, Sergej und Christoph nicht notwendig – das Zusammenleben dieser Jungs, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, läuft ohne Vorurteile ab. Sie erfahren kulturelle Vielfalt, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Integration ist Alltag für sie.