Die Bühne der Ungerechtigkeit: Wie patriarchale Strukturen die freie Theaterszene prägen

Ein Feature von Neele Ossevorth und Josina Carstens

Autoren: Neele Ossevorth, Josina Carstens

Die freie Theaterszene gilt als Ort der Vielfalt, doch Frauen stoßen hier oft an Grenzen. Stereotype Rollenbilder, schlechtere Bezahlung und die männliche Dominanz in Leitungspositionen prägen den Alltag. Warum bleibt eine so progressive Branche hinter ihren Idealen zurück? Und was muss sich ändern, damit echte Gleichberechtigung erreicht wird?

Ich finde es wichtig, aufzuzeigen, in welchen patriarchalen und kapitalistischen Strukturen wir gefangen sind “ sagt Julia Kemp, (37). Sie ist Schauspielerin und steht gerade für das Stück „Eigengrau“ im Hamburger Sprechwerk auf der Bühne. Dort spielt sie die Rolle der Feministin Cassie und sie teilt die Perspektive ihrer Figur: Sie prangert Sexismus und egoistisches Profitdenken an - in der Gesellschaft genau wie in der Theaterbranche, besonders in der freien Theaterszene. Schauspieler: innen wie Kemp sind nicht fest bei einem Theater angestellt, sondern müssen sich wieder und wieder für ein neues Stück bewerben. Diese Unsicherheiten verstärken die alten Machtverhältnisse, die am Theater weiterhin in vielerlei Hinsicht bestehen.

Stereotypisierte Frauenrollen

Eigentlich wolle sie nur noch Rollen spielen, hinter denen sie ganz steht, sagt Kemp. Doch das Angebot an spannenden Figuren sei noch immer begrenzt. Es kommen zwar mehr Stücke wie „Eigengrau“ auf die Bühne, in denen sogar zwei Frauenfiguren interessante und vielschichtige Charaktere haben, doch insgesamt gibt es immer noch zu wenigvielschichtige weibliche Figuren in den Stücken. Immer noch sind es vor allem die „Opferrolle“, das „unscheinbare Mädchen“ oder die „Oma“, die Schauspielerinnen angeboten werden, erzählt Kemp und mit dieser Kritik steht sie nicht allein da. Berühmte Schauspielerinnen wie Sharon Stone oder in Deutschland Maria Furtwängler und Martina Gedeck äußern sie seit Jahren. Die Einseitigkeit der Rollen vermittelt dem Publikum ein verzerrtes Bild von Frauen und zeigt immer wieder dieselben Stereotypen.

Auch Menschen aus anderen marginalisierten Gruppen sind in Theaterrollen wenig vertreten. Und wenn doch einmal eine beispielsweise queere Figur in einem Stück vorkommt, dann ist sie oft klischeehaft dargestellt.

Ab einem gewissen Alter wird die Situation für Frauen noch krasser, so Kemp. „In 10 Jahren bin ich zu jung für die Oma und zu alt für das 16-jährige Mädchen und viele Mutterrollen gibt es überhaupt nicht.” Männer haben hier deutlich mehr Auswahl. Das beklagten gerade auch Michaela May, Gisela Schneeberger und Jutta Speidel, die bekanntesten deutschen Schauspielerinnen um die 70, denen beinahe nur noch Rollen als Demenzkranke oder Omas angeboten werden.

Geringere Bezahlung

Hier endet der Sexismus in der Branche aber noch lange nicht. Obwohl sich die Schauspielszene immer schon progressiv und aufgeschlossen gibt, ist der Gender Pay Gap hier seit Jahren einer der größten: Frauen werden in der Theaterbranche immer noch oft deutlich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Diese Ungerechtigkeit bleibt hartnäckig bestehen, selbst in einer Zeit, in der Gleichstellung verstärkt eingefordert wird.

Am ungerechtesten geht es in der freien Theaterszene zu, das hat auch Kemp schon erfahren. Studien belegen ihren Eindruck: Eine Erhebung des Deutschen Kulturrats zeigte 2020, dass Frauen in der freien Theaterbranche bis zu 39% weniger verdienen als Männer. Auffällig ist, dass diese Diskrepanz nicht nur in höheren Positionen, sondern auch bei der Vergütung freiberuflicher Tätigkeiten, wie Regie- und Schauspielengagements auftritt. Aber auch als höher qualifizierte Theaterangestellte verdienen Frauen noch rund 26% weniger.

Ein Grund für die Lohnungleichheit ist die mangelnde Transparenz bei der Bezahlung.Da Gagen oft individuell ausgehandelt werden, entstehen Ungleichheiten. Frauen zögern, höhere Gagen zu fordern, um in einer netzwerk- und reputationsabhängigen Branche Konflikte zu vermeiden.

Theaterleitung: Eine Männerdomäne?

Der Gender Pay Gap liegt aber auch an der weiter vorherrschenden Rollenverteilung. Männer besetzen häufiger leitende Positionen, während Frauen öfter in künstlerischen oder organisatorischen Bereichen tätig sind, die traditionell schlechter entlohnt werden. Frauen werden zudem seltener für hochdotierte Projekte angefragt, obwohl sie ebenso qualifiziert sind wie ihre männlichen Kollegen.

Die Bühne mag vielfältig sein, doch ein Blick in die Führungsstrukturen, gerade der freien Theaterbranche, zeigt ein anderes Bild. Theaterleitungen sind nach wie vor überwiegend männlich besetzt – ein paradoxes Phänomen in einer Branche, die sich Offenheit und Gleichberechtigung auf die Fahnen schreibt. Obwohl die freie Szene insgesamt diverser erscheint als staatlich geförderte Stadttheater, dominieren auch hier Männer in Führungspositionen. Laut dem Deutschen Kulturrat (2021) sind etwa 70 % der künstlerischen Leitungen im freien Theater männlich besetzt. Dabei machen Frauen einen erheblichen Anteil der Theaterakteur:innen aus – sowohl als Schauspielerinnen als auch in künstlerischen und organisatorischen Funktionen.

Die Gründe für die männliche Dominanz sind vielfältig und tief verwurzelt. Ein wesentlicher Faktor: persönliche Netzwerke. Männer, die seit Jahrzehnten in der Branche tätig sind, profitieren von etablierten Kontakten, die ihnen leichteren Zugang zu Förderung und Ressourcen verschaffen. Frauen hingegen kämpfen oft mit Widerständen, da sie in diesen Netzwerken weniger präsent sind.

Auch das Fördersystem bevorzugt etablierte Namen und Strukturen. Männer, die bereits bekannt sind und führende Rollen übernommen haben, werden überproportional gefördert. Hinzu kommt, dass Frauen in Führungspositionen oft kritischer bewertet werden.

Auch die gängigen sexistischen Rollenbilder tragen zur Ungleichheit bei: Männern schreibt man Führungsstärke zu, Frauen Teamarbeit und Organisation. Dadurch werden Frauen in künstlerischen Leitungen oft übersehen und unterschätzt.

Konsequenzen für Schauspielerinnen

Die finanzielle Ungleichbehandlung hat weitreichende Konsequenzen. Viele Frauen in der freien Szene arbeiten an der Armutsgrenze oder müssen sich durch zusätzliche Jobs finanzieren, was es ihnen erschwert, ihre künstlerischen Visionen zu verwirklichen. Sie sind gezwungen, Engagements anzunehmen, die ihnen nicht zusagen, nur um die Miete zahlen zu können. Auch für die Branche selbst ist diese Ungleichheit schädlich: Talent undKreativität bleiben ungenutzt, und die strukturelle Benachteiligung schreckt junge Frauen ab, sich langfristig in der freien Szene zu etablieren.

Aufgrund der prekären Arbeitsbedingungen und der männlich dominierten Strukturen lassen sich auch freie Schauspielerei und Familienplanung immer noch schlecht vereinbaren: Viele Frauen verlieren ihren Job in einer Produktion, sobald sie ein Kind erwarten. Eine Pilotstudie des Vereins “Bühnenmütter” kam 2022 zu dem Ergebnis, dass 45 Prozent der Theaterschauspielerinnen mit Kindern bislang diskriminierendes Verhalten aufgrund ihrer Mutterschaft erlebt oder miterlebt haben. Jeder vierten wurde ein Vertrag
aufgrund ihrer Mutterschaft aufgelöst oder sie wurde aus einer Produktion ausgeschlossen. Und 43 Prozent der Befragten gaben an, offiziell erst gar nicht zu erwähnen, dass sie Mutter sind. Die Branche organisiert sich immer noch so, dass Proben kurzfristig geplant werden und alle Beteiligten flexibel sein müssen. Und gerade in der freien Szene wird noch mehr Spontanität von den Schauspieler:innen erwartet. Da Frauen in unserer Gesellschaft häufig zuhause mehr Verantwortung für Kinder und Care-Arbeit haben als ihre männlichen Partner, können sie sich solche Arbeitsbedingungen seltener erlauben.

Noch dazu gibt es in den Köpfen von vielen weiterhin das patriarchal geprägte Klischeebild von Künstler: innen, die sich für ihren Beruf völlig hingeben und nichts anderes zum Leben brauchen, als ihre Leidenschaft. So wird es den Müttern in der Szene noch schwerer gemacht. Frauen müssen es mit sich selbst ausmachen, wenn sie einen Kinderwunsch und den Wunsch nach dem Theater vereinen möchten.

Frauen organisieren sich

Angesichts dieser Zustände könnte man als Frau im Theater, gerade als freie Schauspielerin schnell verzagen. Doch Julia Kemp hat Hoffnung, dass sich etwas ändert. Denn: Immer mehr Frauen gründen eigene freie Projekte. Und Initiativen wie Pro Quote Bühne machen auf die Problematik aufmerksam und fördern Gleichberechtigung. Auch Förderinstitutionen verlangen mittlerweile oft diverse Leitungsteams als Bedingung für Unterstützung.

Kemp und ihre Kolleginnen finden: Die Bühne sollte ein Ort der Vielfalt und Innovation sein – ohne Gleichstellung bleibt sie unvollständig. Es ist Zeit, dass die Theaterbranche ihre eigenen Werte ernst nimmt und für Gerechtigkeit sorgt. Frauen haben ein Recht auf faire Bezahlung, genauso wie Männer. Schließlich ist es auch ihr Talent, das das freie Theater zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer Kultur macht.

Die freie Theaterszene kann ein Vorbild für Vielfalt und Gleichberechtigung sein. Dafür muss sie sich von den bisherigen Strukturen lösen und die männliche Dominanz in Leitungspositionen aufbrechen. Die Branche selbst muss ihre Werte – Offenheit, Gleichberechtigung und Kreativität – auch innerhalb der eigenen Reihen verwirklichen. Nur so kann die freie Szene wirklich frei sein - für alle.