Die Relevanz und Gefährdung der freien Theaterszene in einer multimedialen Welt
Wisch und weg
Eine Kolumne von Leo Fröscher
Autor: Leo Fröscher
Eine minimale Bewegung mit dem Finger, ein kleiner Wisch nach unten: Ich lache. 5-sekündiges Video vorbei, noch ein Wisch: Ich höre mir den belanglosen Tagesablauf einer fremden Person an, interessiert mich nicht - WISCH: Ich höre Verschwörungstheorien von einem fragwürdigen Schwurbler, stimmt das? Egal - WISCH.
Politisch und gesellschaftlich bilde ich mich ja sowieso genug weiter, ich schaue schließlich die Tagesschau, naja die 60 Sekunden Version. Die Minute reicht schon für tiefgründige Gedanken. Gibt außerdem nicht so viel Dopamin. Und was interessiert mich schon, was auf der Welt passiert und wie sich unsere Gesellschaft entwickelt? Mir egal, solange ich auf Knopfdruck mein Dopamin und mit einem Klick Aufmerksamkeit und Zuspruch bekomme.
Die Welt richtet sich sowieso nach mir, nach meinem Konsum und meinen Vorlieben. Netflix läuft, wann ich es will. Die Serie beginnt, wenn ich sie starte und endet, wenn ich keine Lust mehr habe, weil TikTok doch interessanter ist. Und Theater? Ach, geh mir weg. Ich gehe selbst nicht mal mehr ins Kino, warum soll ich dann den paar Hampelmännern zuschauen, wie sie auf der Bühne rumtanzen? Vor allem freies Theater - Menschen, die nicht mal fest angestellt sind, so gut können die ja nicht sein. Zumindest nicht gut genug für MEINE Aufmerksamkeit. Es bettelt sowieso Jeder um meine Aufmerksamkeit, meinen Klick, mein Dopamin.
Viele Leserwerden sich bei dieser Beschreibung oder zumindest einigen Teilen davon selbst wiederfinden. Realistisch und absolut notwendig ist es also, sich die Frage zu stellen, welche Rolle die Theaterszene, eine Kunst, die bereits in der Antike entstand, in einer Welt von TikTok, Reels und Netflix einnimmt. Ist das noch notwendig oder kann das weg?
In seiner frühen Entstehungsphase, tief in der Antike hatte Theater schon die Funktion zu unterhalten. Was damals noch als Belustigungsprogramm begann, um das gebildete Volk bei Laune zu halten, entwickelte sich in seiner Funktion über viele Jahrhunderte weiter. Spätestens seit der Epoche der Aufklärung ist klar, dass Theater mehr ist als schlichte Clowns, die lediglich auf der Bühne herumhampeln, um dem Publikum zum Vergnügen zu dienen.
Theater ist der Ausdruck von Emotionen, Gesellschaftskritik und typischer Probleme- die kunstvolle Aufarbeitung von Missständen, Kritik an Regimen und tief verankerten sozialen Strukturen. Theater war schon lange und ist auch weiterhin eine von vielen Bühnen, auf der sich Kreative jeglicher Art ausdrücken und ausleben können. Der Zweig der freien Theaterszene hebt sich hierbei insofern ab, als dass er Menschen die Möglichkeit bietet, diese Form der Kreativität so frei wie nur möglich und möglichst ohne große Einstiegshürden auszuleben. Ebenso wie im freiberuflichen Journalismus, Autorenwesen oder anderen Formen der Freiberuflichkeit kann diese Form durchaus kreativitätsfördernd sein. Durch die freiberufliche Gestaltung der Branche wird außerdem garantiert, dass sie ihren Kernwerten treu bleibt und nicht durch externe Faktoren beeinflusst wird.
Doch wird es das Theater weiter schaffen, den modernen, multi-medial sozialisierten Menschen des 21. Jahrhunderts zu erreichen? In einer sozialen Grundstruktur, in welcher der Kampf um die Aufmerksamkeit des Konsumenten wichtiger und präsenter denn je ist, wird es für die Theaterszene schwerer denn je, wenn nicht schlicht unmöglich, auf demselben Niveau für einen schnellen und möglichst bequemen Dopaminausstoß zu sorgen, wie es die milliardenschweren Social-Media-Kanäle oder hoch-professionalisierten Film- und Serien-Produzenten schaffen.
Vorbei sind die Zeiten des alten Roms, als Theater das Medium war, welches das Volk bei Laune hielt. Viel mehr und vor allem deutlich realistischer sollte man die Funktion von Theater heute mit der eines Buches vergleichen. Eine Statistik aus dem Jahr 2016 zeigt, dass 60 Prozent der Deutschen grundsätzlich gerne Bücher lesen und eine ähnlich hohe Anzahl der erwachsenen deutschen Bevölkerung auch keine Bücher mit über 500 Seiten scheut
Dass die Theaterszene von durchaus berechtigten Existenzängsten begleitet wird, lässt sich kaum abstreiten. Nicht nur im Gespräch mit Darstellern, Kreativen und Verantwortlichen des Theaters, sondern auch anhand der schockierenden Zahlen, vor allem nach der Corona-Pandemie. In den Folgejahren der Pandemie verzeichneten öffentliche und freie Theaterhäuser in unserem Land einen Einbruch von schockierenden 45% der Besucherzahlen.
Im kompletten Gegensatz dazu steht die Anzahl der Beschäftigten an deutschen Theaterhäusern, welche nun mit 41.600 ihren absoluten Höchstwert erreicht hat. Kreative hierzulande wollen weiter Zuschauer inspirieren. Doch sind wir, als Publikum, bereit dazu uns inspirieren zu lassen- uns tiefer mit gesellschaftlichen Problemen zu befassen als mit einem kurzen, desinteressierten Wisch, einem leichten Seufzen und einem 10-sekündigen Gedanken à la „Das ist ja schrecklich, da müsste mal irgendwer was dagegen machen“?
Der bewusste Gang zum Theater, die bewusste Entscheidung, auch freie Theaterkünstler mit den Eintrittsgeldern zu finanzieren und, noch viel wichtiger, mit der eigenen Präsenz und ungeteilter Aufmerksamkeit in einem Zeitalter immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen zu fördern und den Künstler eine angemessene Bühne zu bieten, sollte mit dem bewussten Griff ins Bücherregal und dem Stummschalten des Handys gleichzusetzen sein.
Genau in dieser Rolle, in dieser gesellschaftlichen Funktion hat Theater die große Chance sich neu zu definieren und die freie Theaterszene in ihrer Einzigartigkeit und mit ihren Ecken und Kanten ein unverzichtbarer Teil der modernen multi-medialen Gesellschaft zu werden. Denn eines wird immer deutlicher: Wir als Menschen fühlen uns immer mehr reizüberflutet und brauchen mehr als nur den nächsten Kick, den nächsten Lacher oder die nächste irrelevante Information in Kurzform. Das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt soziale und tiefgründige Fragestellungen und Probleme erörtern zu wollen. Daher wird Theater auch in der Zukunft weiterhin bestehen bleiben.
So wie die Menschen jetzt schon den bewussten Griff hinein ins Bücherregal wagen, werden wir auch in der Zukunft den Griff zum Ticket des neuen Theaterstücks in der Nähe wagen- sei es das neue großorganisierte und aufgelegte Stück oder eben das etwas kleinere Stück der freien Theaterszene, mit Menschen wie dir und mir, deren Ziel es einfach nur ist, mit ihrer Stimme, ihrer Gestik und Mimik das Publikum zum kritischen Denken und Hinterfragen zu animieren.