Nordwind-Festival Rezension
Nackt für die Nachwelt
Eine Rezension von Lena Rüdiger.
Autor: Lena Rüdiger
Menschenmassen drängeln sich Richtung Jungfernstieg, Glühweinduft liegt in der Luft. Die Weihnachtszeit hat nun ganz offiziell begonnen und die alljährlichen Weihnachtsmärkte locken tausende Besucher an ihre Stände. Familien mit Kindern spazieren eingehüllt in dicke Winterjacken um die Binnenalster und genießen den Sonntagnachmittag.
Und dort, wenige Meter von den Menschenmassen, Spaziergängern und Essständen entfernt, ist ein Loch in der Erde gegraben worden. Ein Mann nähert sich diesem. Splitterfasernackt. Er kniet sich vor die Vertiefung, dehnt sich und steckt dann, im wahrsten Sinne des Wortes, den Kopf in den Sand. Bis zum Bauchnabel steckt der junge Mann kopfüber in der Erde. Lediglich seine Beine, Lenden und Arme sind zu sehen. So verharrt der Mann – ganze 32 Minuten.
Bei 4°C.
Nackt.
Die Rede ist von Andrey Kuzkin, einem russischen 35-jährigen Aktionskünstler. Sein Projekt „The Phenomenon Of Nature Or 99 Landscapes With Trees“ ist Teil des Hamburger Nordwind-Festivals, welches vom 27. November bis 6. Dezember in der Kulturfabrik Kampnagel stattfindet. Bei kühlen Graden oder auch gänzlich nackt zu performen ist für den gebürtigen Moskauer keine große Herausforderung, sondern Ausdruck seiner Kunst. Wie hier an der Binnenalster hat sich Kuzkin bereits neben dem Big Ben in London, in und mit Müll bekleidet in New York oder auch bei Minusgraden kurz vor Alaska in die Erde gegraben. So schonungslos wie in Hamburg kam er jedoch nur selten davon. „In New York sagten sie mir, sie wollen meinen nackten Körper nicht sehen und verboten mir mein Projekt. Das hat mich aber nicht davon abgehalten es doch zu tun. Zwar kam nach fünf Minuten die Polizei, aber ich konnte schnell genug weglaufen. Ein zweites Mal habe ich einen Berg aus Müll errichtet und mich dort eingegraben. Auch das haben sie nicht gerne gesehen, aber ich kann eben gut laufen“, erzählt Kuzkin im Interview. Auch in London habe seine Tat viel Aufmerksamkeit erzeugt, unter anderem auch bei den Sicherheitsbeamten. Der Russe ließ sich davon jedoch nicht abhalten und performte seine Kunst wie geplant - mit viel nackter Haut und Applaus.
An der Alster indes bleiben viele Spaziergänger verwirrt stehen, ein kleines Grüppchen Bewunderer hat sich um den Mann in der Erde geschart und macht begeistert Fotos. „Entschuldigung, warum macht er das?“, fragt eine junge Frau die Gruppe. „Das ist Kunst.“, schnaubt ein Fan empört.
Die Frage der jungen Frau ist mehr als berechtigt. Was genau beabsichtigt der Künstler mit seiner Darstellung? Im Gespräch erklärt Andrey Kuzkin: „Die Nachricht an die Menschen soll die Metapher sein, dass Menschlichkeit etwas ist wie ein Baum. Als Heranwachsender bist Du widerspenstig und als Erwachsener stehst Du aufrecht auf beiden Beinen im Wind. Deshalb heißt mein Projekt auch 99 Landschaften und ein Baum.“
Ein Reporter eilt indes mit Mikrophon und Aufnahmegerät durch den kleinen Menschenauflauf und fragt die Passanten: „Ist das für sie Kunst oder kann das weg?“ Die Antworten sind vielfältig. Von purem Argwohn, schierer Verwirrung und lautem Lachen bis hin zu tiefsinnigen Interpretationen und grenzenloser Bewunderung reicht die Bandbreite der Reaktionen. Aber vielleicht ist es auch genau das, was der Künstler mit seiner Performancekunst bewirken will.
Sicher ist jedoch, dass Andrey Kuzkin sich weder von Beamten noch von Wetterverhältnissen von seinem Vorhaben abhalten und am Ende neben 99 einzigartigen Fotografien, unglaubliche Geschichten zu erzählen hat. Mit gereckter Siegesfaust beendet Kuzkin seinen Auftritt an der Binnenalster und genehmigt sich klischeehaft einen großen Schluck Wodka. Cheers, Herr Kuzkin!
Ich verzichte auf den Wodka, schlendere lieber zurück zum Weihnachtsmarkt und wärme mich bei einem leckeren Glühwein wieder auf.
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