Ein Stündchen Ruhe vor dem Sturm

Von den Menschen, die schwimmen, wenn die Stadt noch schläft

Autoren: Tom Kirsten, Paul Burba

Mitten in Hamburg eröffnet ein Bademeister jeden Tag eine blaue Oase. Der Club an der Alster (CadA) ermöglicht seinen Mitgliedern das Schwimmen in der Früh im clubeigenen Becken. Viele von ihnen machen das schon seit vielen Jahrzehnten. Ein morgendlicher Blick in die exklusiven Kreise des Traditionsvereins.

Es ist früh. Einige würden sogar behaupten es sei sehr früh, wenn Karl-Heinz Lüdders um 05:45 Uhr die Plane vom 12m x 25m-Becken zieht. Seit 29 Jahren macht er das. Von montags bis freitags. Im Sommer, im Winter, egal bei welchem Wetter. Verschlafen hat er noch nie. „Mit meinen drei Pott Kaffee am Morgen geht das schon“, sagt der grauhaarige Bademeister mit einer halbgefüllten Tasse in der Hand, während er die zehn Minuten genießt. Die zehn Minuten, in denen er die gesamte Anlage am Hamburger Rothenbaum für sich hat. Nebenan bekommt das große Tennisstadion die ersten Sonnenstrahlen des Tages ab. Es dauert eine Weile, dann bahnt sich das Licht auch seinen Weg über den Rasen, bis es schließlich das Becken erreicht. Einige Vögel zwitschern und ein paar Hasen jagen von Busch zu Busch. Das Wasser ist so glatt, dass es scheint, als könnte man darauf gehen. Chlorgeruch liegt in der Luft. Das stört aber nicht. Ganz im Gegenteil: ohne würde etwas fehlen.

06:01 Uhr: Der erste Sprung ins warme Nass

Pünktlich um 06:01 Uhr steigt der erste Schwimmer ins Wasser. „Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Gerkens“, wird er von Bademeister Lüdders in seinem Hamburger Dialekt begrüßt. Das macht er immer so. Der 62-jährige kennt alle beim Namen. Zwar legt der Club an der Alster Wert auf Privatsphäre und ist nicht für jedermann zugänglich - aber die meisten kennen sich schon lange und der Umgang miteinander ist höflich, wenn nicht sogar freundschaftlich.

06:10 Uhr: Dampfende Modesünde

Kurz nicht hingeschaut und schon ist das Becken voll mit Badekappen. Um 06:10 Uhr sind alle Bahnen belegt. Das 27°C warme Wasser dampft. Apropos Badekappen: sollte es für dieses Accessoire eine Mode geben, dann ist sie hier auf jeden Fall stehen geblieben. Sofern nicht die CadA-Kappen getragen werden, bedecken vor allem Modelle der vergangenen drei Jahrzehnte die Köpfe. Anders an den Füßen: Flip Flops scheinen nicht mehr angesagt. Man läuft in Crocs zum Becken. Um die Materialschlacht der Branche macht sich hier keiner Gedanken. Aber um Mode geht es auch gar nicht.

06:20 Uhr: Schwimmen am Morgen ist ein Muss

„Zu schwimmen, wenn alle anderen noch schlafen“, das ist der Grund, der am häufigsten genannt wird, wenn man die Schwimmer danach fragt, warum sie ihren Sport ausgerechnet zu dieser Uhrzeit betreiben. Die Jüngeren unter ihnen sehen es ganz pragmatisch: „Ich schaffe es einfach nur jetzt vor der Arbeit. Abends habe ich entweder keine Zeit oder ganz einfach keine Lust. So starte ich perfekt in den Tag“, sagt Frau Grenz, als sie vom Becken zur Umkleide eilt. Dreimal in der Woche kommt sie, pflegt einen sauberen und schnellen Schwimmstil. Auch Herr Gerken versucht dreimal in der Woche vor der Arbeit zu kommen. Meistens zieht er sich vorher auch noch die Laufschuhe an und joggt drei Kilometer an der Alster. „Ich liebe es, morgens mit Sport in den Tag zu starten. Dafür ist Wasser definitiv das richtige Element“, sagt er und verschwindet ebenso schnell in der Umkleide.

06:25 Uhr: Die präsenile Flucht ins Becken

Andere haben etwas mehr Zeit. Herr Westphal erzählt, dass mittlerweile „die präsenile Bettflucht“ daran schuld sei, dass er und seine Frau täglich zum Frühschwimmen kommen würden. Mal kommen sie zusammen, mal kommen sie getrennt. Das mache ihnen nichts mehr aus. Als er ein wenig ernster wird, sagt der 80-Jähirge: „Der Morgen ist die beste Tageszeit. Das war schon immer so. Da wird es hell und man hat den Tag noch vor sich. Abends wird es dunkel. Das mögen wir nicht.“ Herr Westphals Rückenlage sieht zwar nicht mehr ganz so flüssig aus wie es vor 40 Jahren der Fall war, aber es ist zu erkennen, wie viel Wert er auf die Sauberkeit und die Ausführung der Bewegung legt. Ein richtiger Schwimmer eben. Ein anderer Herr erklärt, dass er zu Fuß nicht mehr so schnell sei. Die Gelenke täten ihm weh, er habe oft Beschwerden. Er taucht ins Wasser und gleitet mit einer Leichtigkeit davon, dass davon nichts mehr zu sehen ist.  

06:30 Uhr: Klönschnacker komplettieren die Atmosphäre

Die Ruhe geht trotz der regen Betriebsamkeit im Becken nicht verloren. Das Plätschern des Wassers und das gelegentliche Prusten der Schwimmer hat eine geradezu beruhigende Wirkung. Auf der Bahn rechts außen hat sich eine kleine Gruppe „Klönschnacker“ zusammengefunden. Je nach Tempo steigt man ins Gespräch ein oder schwimmt weiter, bis man sich wieder begegnet. Es geht um dies und das: Herr Meyer, der sich länger nicht mehr hat blicken lassen oder die Enkel in Übersee sind die Themen, die es bei gemächlichem Tempo zu besprechen gilt. Ab und an mischt sich auch Herr Lüdders ein.

06:45 Uhr: Nutten, Zuhälter und Tennisstars in Lüdders Revier

In seinen Jahren als Bademeister im Club hat er schon so einiges erlebt. Früher seien nachts auch mal ein paar Zuhälter mit ihren Mädchen ins Becken gesprungen und hätten sich auf der Wiese breit gemacht. „Die waren eigentlich ganz nett. Haben nie weiter Probleme gemacht, wenn ich sie verscheucht habe. Kaputt haben sie nie etwas gemacht“, erzählt Lüdders, während er im Keller die Anlage überprüft, die dafür verantwortlich ist, dass die 600 Kubikmeter Wasser auf die richtige Temperatur gebracht werden. Ganz anders sieht es im Tennisstadion aus, das im Westen direkt zum Schwimmbereich grenzt. Einige der angelaufenen Sitze wurden nachts von Chaoten herausgerissen, die Glasfronten sind vergilbt. Die Anzeigetafel nicht zu gebrauchen. Drei Wochen vor dem jährlichen ATP-Turnier rückt eine große Mannschaft an und bringt das traditionsreiche Stadion wieder auf Vordermann. Ab und zu seien auch die Tennisspieler ins Becken gesprungen, um ein paar Bahnen zu ziehen und sich zu erholen.

07:00 Uhr: In der Ferne naht der Sturm

Gegen 07:00 Uhr wird es ruhiger. Das Becken ist zeitweise wieder leer. Herr Lüdders nippt tiefenentspannt an seinem Kaffee. Den ersten „Ansturm“ hat er gemeistert. Wenn man ihn so sieht, kann man gar nicht glauben, dass er auch mal so richtig durchgreift, wie es ein Bademeister eben tut. Aber der Anblick täuscht. Bald kommen die Familien mit Kindern. Es wird gerannt, gesprungen und geschrien. Es ist vorbei mit der Ruhe. Bademeister Karl-Heinz Lüdders wird dann auch mal laut.